Schwammige NATO-Beratungen

■ Owen und Stoltenberg warnen vor Dissenz zwischen Nato und UNO in der Frage des Eingreifens/ Serbenstellungen nicht einsehbar

Die ständigen Botschafter aus den 16 NATO-Mitgliedsländern konnten sich über Einflußversuche nicht beklagen.

Zu Beginn ihrer gestrigen NATO-Ratssitzung über Luftangriffe in Bosnien schickten David Owen, EG-Vermittler, und Thorvald Stoltenberg, UNO-Unterhändler, einen Bericht nach Brüssel, in dem „substantielle Fortschritte“ bei den Genfer Verhandlungen behauptet werden, die „nicht gefährdet werden“ dürften. Am vergangenen Freitag hatte Owen bereits die erste Warnung an die Adresse der 16 Regierungen abgegeben: „Sollte die NATO ohne eine entsprechende, eindeutige Entscheidung des UNO-Sicherheitsrates militärische Maßnahmen in Bosnien ergreifen, dürfte das Bündnis künftig nie mehr einen Auftrag der UNO erhalten.“

Mit dieser Drohung zielte Owen auf das zentrale Dilemma der westlichen Militärallianz seit Ende des Ost-West-Konfliktes vor vier Jahren. Bislang hat die Nato es nicht geschafft, das Handlungsinstrument für die KSZE zu werden.

Im Jugoslawienkonflikt wurde besonders deutlich, daß die 16 NATO-Staaten keine gemeinsame Vorstellung von der politischen Zukunft Europas haben. Das wäre jedoch Voraussetzung für die sicherheitspolitische und militärische Handlungsfähigkeit als Bündnis. Dieses Defizit macht sich häufig an Äußerlichkeiten fest. Etwa, wenn Großbritannien, Frankreich oder Kanada sich gegen Luftangriffe aussprechen mit der Begründung, sie wollten ihre in Bosnien stationierten Bodentruppen nicht gefährden. Gestern galt es vor der Sitzung des NATO-Rats als wahrscheinlich, daß nicht zuletzt hieran ein Konsensbeschluß aller 16 Mitglieder erneut scheitern werde. Dissens bestand auch in der Frage, was mit der Art von Maßnahmen, deren operationale Planung am Wochenende abgeschlossen wurde (selektive Luftschläge gegen serbische Stellungen um Sarajevo) genau erreicht werden soll. Das ist auch die eigentliche Kontroverse zwischen NATO und UNO sowie innerhalb des UNO- Sicherheitsrates, in dem mit den USA, Großbritannien, Frankreich und Spanien ja auch die Kontrahenten innerhalb der NATO vertreten sind. Dazu kommt im Sicherheitsrat Rußland, das die Interessen Serbiens vertritt. Deshalb, und weniger aus grundsätzlichen Erwägungen, drängt Moskau massiv auf die Entscheidungs- und Befehlsgewalt des Sicherheitsrates bei etwaigen Luftangiffen. Die Auseinandersetzung, ob ein von UNO-Generalsekretär Butros Gahli bestimmter UNO-General oder aber ein US-Militär den Oberbefehl über militärische Maßnahmen haben, ist lediglich Ausfluß dieser Kontroverse.

Westliche Politiker erwecken vor allem in der US-amerikanischen Öffentlichkeit den Eindruck, mit den Luftangriffen könnte das Kriegsglück zugunsten der bosnischen Muslime gewendet und die Dreiteilung des Landes am Verhandlungstisch verhindert werden. Dabei haben sie das Ziel der Erhaltung des multiethnischen Einheitsstaates politisch längst aufgegeben. NATO-Militärs sehen es wesentlich nüchterner: rund 600 Artilleriestellungen haben die Serben um Sarajevo herum in Stellung gebracht, etwa doppelt soviel wie die Truppen der Alliierten um Berlin Anfang 1945. Viele davon sind eingegraben und nicht sichtbar für Kampfflugzeugbesatzungen. Mit den derzeit zur Verfügung stehenden 76 NATO-Flugzeugen auf dem norditalienischen Stützpunkt Avioni sowie den Kampfjets auf dem in der Adria kreuzenden US-Flugzeugträger J. F. Kennedy lassen sich vielleicht zehn Prozent dieser Stellungen zerstören. Eine eher symbolische Geste also, von der sich Bosniens Präsident eine „Aufweichung“ der Verhandlungsposition des bosnischen Serbenführes Karadžić erhofft.

Kommt beim NATO-Treffen kein Kosens zustande, bleibt nach Auffassung einiger Bündnisregierungen (USA, Türkei u.a.) die Möglichkeit, auf Basis von Resolution 770 des UNO-Sicherheitsrates vom 22. August 1992 zu handeln. Diese erlaubt allen Staaten oder regionalen Staatenbündnissen „alle Maßnahmen“ um die humanitäre Versorgung der Bevölkerung Sarajevos und ganz Bosniens durchzusetzen. Diese Maßnahmen werden in der Resolution ausdrücklich auf Basis von Kapitel 7 der UNO-Charta (Zwangsmaßnahmen) gestellt. Nach Auffassung Washingtons und Ankaras ist dies eine „ausreichende völkerrechtliche Basis“ zum militärischen Handeln und bedürfe keiner weiteren Entscheidungen des UNO-Sicherheitsrates oder eines ausdrücklichen Befehls von UNO- Generalsekretär Butros Ghali.

Es ist jedoch sehr unwahrscheinlich, daß Washington auch entsprechend dieser völkerrechtlichen Einschätzung handeln wird. Denn das hätte für das Verhältnis UNO-USA/NATO genau die Folgen, vor denen Owen warnte. Andreas Zumach, Genf