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Sparpläne sind „Amoklauf“ der Bundesregierung

■ Proteste von Wohlfahrtsverbänden, ÖTV und aus dem Regierungslager gegen geplante Einsparungen im Sozialbereich / Morgen berät das Kabinett – ohne Kohl

Bonn/Frankfurt a.M. (dpa/epd) Gegen den von Bundesfinanzminister Waigel (CSU) und FDP-Chef Kinkel angekündigten Sozialumbau sowie das Sparpaket 1994 hat die Gewerkschaft ÖTV am Montag eine „Aktion Gegenwehr“ zur Sicherung des Sozialstaates angekündigt. ÖTV-Vorstandsmitglied Ulla Derwein kritisierte vor allem geplante Streichungen beim Arbeitsförderungsgesetz und die geplante Nullrunde bei der Sozialhilfe. Während auch die CDU-Arbeitnehmer, die SPD und die Sozialhilfe-Initiativen Waigels Kürzungspläne ablehnten, bekam der Bundesfinanzminister Rückendeckung vom Stuttgarter Regierungschef Erwin Teufel (CDU). Teufel sagte: „Ich glaube, daß wir in gar keinem Bereich öffentlicher Ausgaben um Kürzungen herumkommen..., weil wir uns nicht mehr höher verschulden dürfen von seiten der öffentlichen Hand, sonst gefährden wir erst recht die wirtschaftliche Entwicklung.“

Dagegen kritisierten sowohl der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Heiner Geißler, und der Vorsitzende des Arbeitnehmerflügels der Fraktion, Heribert Scharrenbroich, die von Waigel beabsichtigte Nullrunde bei der Sozialhilfe vom 1. Juli 1994 bis zum 30. Juni 1995 sowie die Anbindung der Sozialhilfe an die Nettolöhne mit drei Prozent im nachfolgenden Jahr bis zum 30. Juni 1996. Geißler erklärte: „Über die Kürzung der Sozialhilfe ist noch gar nichts entschieden. Die Sozialhilfe orientiert sich am menschenwürdigen Existenzminimum. Deshalb sollte daran nichts verändert werden.“ Ähnlich argumentierte auch Scharrenbroich.

Auch von Wohlfahrtsverbänden und Selbsthilfe-Initiativen sind die Sparpläne scharf kritisiert worden. Die beabsichtigte „Nullrunde“ für die Regelsätze der Sozialhilfe sei gegen die Menschenwürde gerichtet, hieß es in einer am Montag in Frankfurt am Main verbreiteten Erklärung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Wenn menschenwürdiges Leben nicht mehr am Mindestbedarf gemessen werde, drohe den Armen weitere Ausgrenzung.

Als „Amoklauf der Bundesregierung“ bezeichnete die Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfe-Initiativen das geplante Einfrieren der Sozialhilfe. Die Bonner Pläne, die Regelsätze im kommenden Jahr nicht zu erhöhen, zeigten einen „unglaublichen Zynismus“. Der ohnehin schon arme Teil der Bevölkerung werde weiter in die „Verelendung“ getrieben, kritisiert die Arbeitsgemeinschaft, die rund 250 Sozialhilfe- und Arbeitsloseninitiativen vertritt.

Mit den Kürzungen bei der Sozialhilfe, beim Kinder- und Erziehungsgeld sowie zahlreichen anderen Einsparungen, die in zwei Gesetzentwürfen des Finanzministeriums jetzt auf dem Tisch liegen, wird sich morgen das Bundeskabinett in einer Sondersitzung befassen – allerdings ohne den Bundeskanzler, der noch am Wolfgangsee urlaubt. In den beiden Entwürfen geht das Finanzministerium für 1994 durchschnittlich von 3,7 Millionen Arbeitslosen aus.

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