Schleife oder Pfeil?

Zeit-Philosophen haben derzeit eine ziemlich gute Zeit. Zeitloses Nach-Denken ohne Zeitverlust mit  ■ Wilhelm Schmid

Was die Zeit ist, weiß im Alltag jeder Mensch: Es ist das Korsett der Uhr, in das er sich eingezwängt fühlt. An der starren Zeit, die er von den Uhren abliest, orientiert er sich jedoch auch unentwegt mit einem flüchtigen Blick, wie um sich festzuhalten an einem Gerüst mitten im tosenden Wirbel des Verkehrs und der Kommunikation um ihn herum. Das Verrückte ist nur: Was die Zeit „eigentlich“ ist, hat noch nie jemand zu sagen gewußt. Es muß daher besondere Aufmerksamkeit erregen, wenn da nun einer am Ende des 20. Jahrhunderts nichts weniger als die „Grundlegung einer allgemeinen Zeittheorie“ verspricht, wie dies der renommierte Naturwissenschaftler Friedrich Cramer tut.

Kann er das Versprechen halten? Natürlich nicht. Dennoch ist sein Unternehmen faszinierend. Es geht ihm hauptsächlich darum, die herkömmliche Zeitvorstellung zu revidieren, wonach man es mit einem gleichförmigen, kontinuierlichen Fluß zu tun habe, der für alle Wesen und Dinge in der Welt derselbe ist. Cramer will im Gegenzug den zahllosen „Eigenzeiten“ Rechnung tragen und sie zugleich in ihren Zusammenhängen betrachten, für die er den Begriff des „Zeitbaums“ prägt: Er versteht darunter eine Zeit, die sich endlos verzweigt, aber auch Hauptlinien kennt; eine Zeit, die die Widersprüche einer wiederkehrenden „reversiblen“ sowie einer linearen „irreversiblen“ Struktur in sich faßt, also die Zeitschleife ebenso wie den Zeitpfeil, statt sie wechselseitig auszuschließen. Es handelt sich um den Versuch zusammenzudenken, was unvereinbar scheint: Die dauerhafte (reversible) Zeit, wie sie etwa im Rhythmus der Atmung und überhaupt in allen stabilen Strukturen wirksam ist – und Zeit als (irreversible) Veränderung, wie sie im Entstehen von allem Neuen und im Älterwerden zum Ausdruck kommt. Mithilfe der Chaostheorie können die Übergänge zwischen beiden Formen beschrieben werden.

Hier wird in der Tat die Konsequenz aus den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen der letzten Jahrzehnte gezogen und der Bruch mit einer alten abendländischen Tradition des Denkens der Zeit deutlich gemacht: Man kann nun nicht mehr nur von dem einen Ursprung sprechen, aus dem alles hervorging und auf den alles zurückgezogen ist, und den selbst Einstein noch mit seiner Suche nach der „Weltformel“ zu entdecken hoffte. In einer prozeßhaften Welt ist, wie Cramer sagt, die Annahme einer absoluten Zeit eine „unerlaubte Vereinfachung“. Das unerhört Neue seiner Zeittheorie ist nun, daß sie demgemäß keine Verabsolutierung betreibt, sondern eine komplizierte Relativität zur Geltung bringt: Es gibt keinen einheitlichen Zeitstrom mehr.

Nach seiner Überzeugung gibt es vielmehr „Zeitfelder“, sie hängen wie Früchte an dem großen Zeitbaum, der mit jeder Verzweigung neue Zeiten schafft und alte absterben läßt. Gibt es auf diesem kosmischen Zeitbaum denn wenigstens auch einen Rückzugsort der Zeitlosigkeit? Aber gewiß – er findet sich in den sogenannten schwarzen Löchern. Nun weiß freilich jeder, daß es dort sehr ungemütlich ist, jedenfalls sind sie keine Urlaubsorte, um mal die Seele baumeln zu lassen. Da bucht man besser eine Reise auf den Mond: Dort kann man gemütlich seine Fußstapfen setzen, die nie mehr verwischt werden, weil nichts passiert, also keine Zeit vergeht. Wie das Gute doch immer so naheliegt – zumindest relativ gesehen.

Aber verlassen wir den kosmischen Blickwinkel und die damit sich aufdrängenden Spötteleien. Auf der Erde selbst, bei der Gestaltbildung der Lebewesen sind die Zeitstrukturen faßbarer und erweisen sich als das strukturierende Prinzip überhaupt. Auch diese zeitlich genau aufeinander abgestimmten Prozesse in den Organismen erfaßt Cramer mit seinem Zeitbaum, der die endlose Verzweigung und das Ineinandergreifen der Zeiten sichtbar macht. Und selbst auf der rein menschlichen Ebene vollzieht sich das Leben im Spannungsfeld zwischen wiederkehrenden Rhythmen einerseits und den nicht mehr aufhebbaren chaotischen Ereignissen andererseits – den letzteren schlägt Cramer übrigens das Phänomen der Liebe zu, ob mit Recht oder Unrecht, muß hier nicht entschieden werden. So landet er zuletzt wieder im vertrauteren Raum der Kultur, wo ein äußerst vielfältiges Denken und Erfahren von Zeit sich entfaltet.

Einen Abglanz dieser Vielfalt bietet ein Buch mit dem Titel „Zeitreise“, das auf eine kürzlich veranstaltete Ausstellung in Zürich zurückgeht. Die Zeitreise beginnt schon auf den ersten Seiten mit einem Paukenschlag – einem Bild von Mark Tansey, das eindrucksvoll den Start einer amerikanischen Raumfähre zeigt. In sicherer Entfernung vom Startort haben zehn Landschaftsmaler ihre Staffeleien aufgestellt, und potzblitz! Schon acht Sekunden nach dem Start findet sich das originalgetreue Bild des Starts auf ihren Leinwänden. Der Maler nennt sein Bild zynisch „action painting“, ein Hohn auf die auseinanderklaffenden Zeiten in unserer Epoche. Die kontemplative Pose kollidiert mit der rasenden Geschwindigkeit der Hochtechnologie, die moderne Zeit kann man nicht „malen“. Das Bild ist reich an Anspielungen auf die Geschichte der Kunst: Waren nicht die Impressionisten einst ausgezogen, unter freiem Himmel Landschaft und modernes Leben zu malen? Hier also, was davon übriggeblieben ist: Die Lächerlichkeit der Malerei vor den Herausforderungen der Zeit – wenn sie sich etwa darauf einläßt, mit der Live-Berichterstattung des Fernsehens zu konkurrieren.

Im Buch finden sich hervorragende Beiträge wie der von Norbert Bolz über das Problem der elektronischen Zeit, von Georg Seeßlen über die Zeit im Film, von Martin Stingelin über das Zeitregime in Gefängnissen, oder von Sigrid Schade über den Zeitstil der Fotografie; ferner technik- und militärgeschichtliche Erörterungen, philosophische Erwägungen, zynische Beschreibungen des Dreiviertel-Sekunden-Todes unter der Guillotine, kunsthistorische Überlegungen zur Zeit bei Giacometti und, nicht zu vergessen, der gewohnte Rundumschlag des unvermeidlichen Bazon Brock – hier hat er die „Zeitkrankheit“ im allgemeinen im Visier. Und schließlich gibt es auch ein Wiedersehen mit Friedrich Cramer, der in aller Kürze noch einmal seine Theorie des Zeitbaumes erläutert, nun eingegliedert in viele andere mögliche Auffassungen von Zeit, die aber bemerkenswert häufig um ein und dasselbe Problem kreisen: wie man die beiden grundverschiedenen Gesichter der Zeit, Dauer und Veränderung, zusammendenken kann.

Bei all diesen vielen Aspekten sind wir zuletzt ganz dankbar, von Barbara Sichtermann noch etwas über „Zeitspielräume und Lebenskunst“ zu erfahren, in all der Hilflosigkeit, in die wir angesichts der unfaßbaren Zeit nun doch geraten sind. Sie rät zu einer maßvollen Lebenskunst, die wiederum die beiden Enden der Zeit zusammenbindet und einerseits den geregelten Zeitvorschriften, also der Kontinuität Respekt zollt, andererseits den Diskontinuitäten, den Überraschungen Spielraum läßt. Sichtermann spricht von „Zeitausflügen der Seele“ – auf die Gefahr hin, den Zug zu versäumen oder die Stelle zu verlieren. Na denn, wenn es sonst nichts kostet ...

Friedrich Cramer: „Der Zeitbaum. Grundlegung einer allgemeinen Zeittheorie“. Insel Verlag 1993, 283 Seiten, 38 DM.

„Zeitreise. Bilder/Maschinen/Strategien/Rätsel“ herausgegeben von Georg Christoph Tholen, Michael Scholl, Martin Heller: Museum für Gestaltung, Zürich, und Verlag Stroemfeld/Roter Stern, Basel u. Frankfurt/M. 1993, 414 Seiten, 48 DM.