Behindert von der Arbeitsamt-Bürokratie

Ein blinder Klavierstimmer sucht sich selbst einen Arbeitsplatz / Weil Zuschußbescheide vom Arbeitsamt ausbleiben, droht jetzt sein Chef mit Entlassung nach der Probezeit  ■ Aus Berlin Dorothee Winden

Vom Stammkunden eines HiFi- Geschäfts zum Angestellten zu avancieren ist zwar ein nicht ganz so steiler Aufstieg wie vom Tellerwäscher zum Millionär, für Michael Baumeister ist es aber dennoch ein Glücksfall.

Zweieinhalb Jahre war der gelernte Klavierstimmer arbeitslos, sein wöchentlicher Gang zum Arbeitsamt blieb vergeblich, denn wegen seiner starken Sehbehinderung hatte ihm das Arbeitsamt nichts zu bieten. Michael Baumeister machte sich also selbst auf die Suche nach einem Arbeitsplatz. Der 25jährige Technikfreak, der in seiner Freizeit für die Radiosendung des Berliner Allgemeinen Blindenvereins Beiträge recherchiert, moderiert oder auch an den Reglern sitzt, fragte in besagtem HiFi-Geschäft an, ob sie nicht einen Job für ihn hätten. Und sie hatten. Geklappt hat es allerdings nur, „weil die mich kannten und wußten, daß ich was draufhabe“, räumt Baumeister ein.

Seit April überspielt er im Hinterzimmer der Kreuzberger Filiale Kassettenaufnahmen auf CD – meist Demotapes von Musikgruppen. Wenn es nach seinem Chef, Rolf Ruff, geht, soll er demnächst die Aufnahmen auch digital nachbearbeiten, also beispielsweise Knackser oder Hall rausnehmen. Die entsprechende Computeranlage müßte nur mit einem Vergrößerungsbildschirm und wegen des Großschreibprogramms mit zusätzlicher Rechenkapazität ausgerüstet werden – an sich kein Problem, wäre da nicht die Bürokratie.

Ende März hat Ruff beim Arbeitsamt fünf Anträge gestellt: unter anderem auf Eingliederungsbeihilfe und Mittel zur „Förderung der Einstellung Schwerbehinderter“. Davon ist Anfang August erst die Eingliederungsbeihilfe bewilligt. „Das wundert mich auch, daß das so lange dauert“, sagt die freundliche Sachbearbeiterin des Arbeitsamtes I, die den Antrag, mit ihrer fachlichen Begutachtung versehen, im Mai an das Arbeitsamt IV weitergeleitet hat. Jetzt schmort die Akte bei der „Bescheidabteilung“, die für das Anweisen der Beträge zuständig ist.

„Wenn ich nicht innerhalb der sechsmonatigen Probezeit erfahre, ob die Anträge durchkommen, dann gebe ich den jungen Mann in den Schoß der Allgemeinheit zurück“, droht Ruff und flucht auf den langen Dienstweg. Fast 15.000 Mark Gehalt hat er mittlerweile vorgeschossen. Aus Mildtätigkeit hat er Baumeister schließlich nicht eingestellt, sondern, „weil er der richtige Mann ist“ – der wegen seiner Sehbehinderung allerdings die anfallenden Verwaltungsarbeiten nicht selbständig erledigen kann. Ohne den Lohnkostenzuschuß, der bis zu zwei Jahre gewährt werden kann, hätte Baumeister deshalb kaum eine Chance. Ohne die Zuschüsse „rechnet sich das überhaupt nicht“, so Ruff, „man muß ihm ja alles vorlesen, das macht ja mehr Arbeit“. Scheitern könnte Baumeisters Eigeninitiative nicht nur am Schneckentempo des Arbeitsamtes, sondern auch an der Haltung seines Chefs: „Ohne eine hundertprozentige Finanzierung ist die Sache für mich gestorben.“

Mittlerweile liegt immerhin der Bescheid vor, daß das Arbeitsamt die notwendige Umrüstung des Arbeitsplatzes nicht übernimmt. „Das ist bei einem Betrag in der Größenordnung von mehreren tausend Mark normal“, so Baumeister. „Die verweisen mich an die Hauptfürsorgestelle.“ Die erstattet auf Antrag die Mehrkosten für die behindertengerechte Ausstattung des Arbeitsplatzes. Finanziert wird dies aus der Ausgleichsabgabe der Betriebe, die die Behindertenquote nicht erfüllen. „Ich hoffe nur, die brauchen nicht so lange wie das Arbeitsamt“, stöhnt Ruff.

„Drei bis vier Monate dauert in der Regel die Bearbeitung der Anträge beim Arbeitsamt“, weiß Karin Wieland aus eigener Erfahrung. Sie arbeitet beim Fachdienst Integration, der sich darum bemüht, geistig und körperlich Behinderte wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. „Nicht nur freie Stellen besetzen, sondern zusätzliche schaffen“ lautet die Maxime des Berliner Projektes, das vor vier Jahren auf private Initiative entstand. Die MitarbeiterInnen akquirieren Arbeitsplätze bei Firmen, beraten sie über Fördermöglichkeiten und vermitteln ihnen geeignete Behinderte. Weil man die Anforderungen des Arbeitsplatzes genau kenne und die Fähigkeiten der Behinderten gut einschätzen könne, klappe das meist „reibungslos“. Der Fachdienst übernimmt für die Betriebe den kompletten Papierkrieg mit dem Arbeitsamt und ist auch mit Rat zur Stelle, wenn bei der Einarbeitung Probleme auftauchen. Erfolgreich ist das Projekt vor allem, weil Arbeitgeber und Behinderte intensiv betreut werden – etwas, das die überlasteten Mitarbeiter des Arbeitsamtes kaum leisten können. Jeder der zehn Integrationsberater des Fachdienstes verschafft pro Jahr etwa zwölf Behinderten einen Arbeitsplatz. Angesichts der steigenden Arbeitslosenzahlen auch bei Schwerbehinderten erscheint dies allerdings wie ein Tropfen auf den heißen Stein.

1991 waren nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit in Westdeutschland 116.750 Schwerbehinderte arbeitslos, 1992 stieg ihre Zahl auf 124.825 und Ende Juni 1993 auf 141.655. Ein ähnliches Bild bietet sich in Ostdeutschland, wo in vielen Betrieben nach der Wende die „geschützten Abteilungen“ aufgelöst wurden. 1991 waren in den neuen Ländern 19.939 Schwerbehinderte arbeitslos, 1992 stieg ihre Zahl auf 30.257 und sank bis Ende Juni 1993 leicht auf 27.671. Schwerbehinderte bleiben mehr als doppelt solange arbeitslos wie Nichtbehinderte. Während diese im Schnitt nach 6,6 Monaten eine neue Stelle finden, dauert es bei Schwerbehinderten 13,4 Monate.

„Behinderte Frauen sind von Arbeitslosigkeit besonders stark betroffen“, sagt Birgit Schopmans, selbst sehbehindert und Mitarbeiterin im hessischen Koordinationsbüro für behinderte Frauen. 44 Prozent der männlichen Behinderten stehen in einem Arbeitsverhältnis, nur 17 Prozent der behinderten Frauen. Auch bei der beruflichen Förderung haben sie das Nachsehen. Bei den Maßnahmen zur Ausbildung und Umschulung sind sie nur zu 30 Prozent vertreten, dagegen arbeiten in den Werkstätten, dem „Schlußlicht der beruflichen Rehabilitation“ (Schopmans) 40 Prozent Frauen.

Nach ihrer Erfahrung haben Behinderte auf dem Arbeitsmarkt kaum Chancen. „Wenn aus der Bewerbung ersichtlich ist, daß der Bewerber behindert ist, ist oft schon die Klappe runter – egal wie gut er qualifiziert ist. Da wird gar nicht erst überlegt, ob es nicht doch möglich wäre, ihn zu beschäftigen.“ Daß es den Arbeitgebern mit einer kräftigen Lohnsubventionierung schmackhaft gemacht wird, Behinderte einzustellen, findet sie zwiespältig: „Wir werden angeboten wie faule Tomaten.“ Einen Ausweg aus dem Dilemma sieht sie aber nicht. „Die Alternative ist, gar nichts zu haben.“