Eingangstor zur "Frontstadt"

■ In der vierzigjährigen Geschichte des Notaufnahmelagers Marienfelde markieren sich wie Jahresringe die Umbrüche und Verwerfungen in der DDR und Osteuropa

Ein „zeitbedingtes“ Provisorium sollte es sein, überdauert hat es vierzig Jahre. Für Schlagzeilen, in denen sich menschliches Elend und die Schlagworte des Kalten Kriegs widerspiegelten, war das Notaufnahmelager Marienfelde in diesen Jahren immer gut. Die Flachbauten waren für Generationen von Flüchtlingen das Synonym für den ersten Schritt in den „freien Westen“.

Wie Jahresringe lassen sich durch die Zeiten die Repressionsphasen, die Umbrüche und Zusammenbrüche in der DDR und Osteuropa in der Statistik der dort Eingekehrten ablesen. Jedesmal waren diese politischen Verwerfungen mit einem Ansturm auf Marienfelde begleitet.

Bei der Eröffnung im August 1953 emphatisch als „das neue Tor in die Freiheit“ gefeiert, waren die grauen Wohnblocks des Lagers in all den Jahren das Nadelöhr von Ost nach West: Statt der erträumten offenen Arme, so beklagten sich die Flüchtlinge, gab es im Westen nur unendlich viel Bürokratie, Berge von Formularen und immer neue Laufzettel zu immer neuen Behörden.

Achtzig Prozent aller Flüchtlinge aus der „Sowjetzone“ wählten bis zum Mauerbau den Weg über Berlin – und damit über Marienfelde. Zuerst waren es die Menschen, für die nach dem niedergeschlagenen Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 Ende der Fahnenstange in der DDR war. Ihnen folgten über die bis zum Mauerbau noch offene Grenze zur „Frontstadt West-Berlin“ (DDR-Jargon) zu Tausenden die Bauern, die bei der zwangsweisen Kollektivierung der Landwirtschaft ihren Hof verloren.

Oft genug kamen die Familien ohne jede Habe, weil jedes Gepäckstück das Mißtrauen der DDR-Grenzer geweckt hätte. „Die meisten flohen in Sonntagskleidern“, titelte der längst verblichene Kurier beispielsweise im April 1960, als wieder einmal das Lager aus allen Nähten platzte: Allein zwischen Karfreitag und Ostermontag meldeten sich 5.000 Menschen im Notaufnahmelager, das eigentlich nur für 1.200 Flüchtlinge ausgelegt war. Und doch war dies nur der Auftakt zu einem Massen-Exodus, bis die DDR mit dem Bau der Mauer die Notbremse zog.

„Das Grau der Namenlosen erdrückt das Grün dieser kleinen Stadtrandsiedlung“, schrieb die Welt im August 1958 in gestelzter Zeitungslyrik über das Lager. In drangvoller Enge, wo jeder Quadratmeter belegt war und in der Nacht auch der Speisesaal zum Schlaflager wurde, hausten die Menschen, die aus der „Zone“ kommend „den Sprung in die Freiheit“ gewagt hatten, wie die Politik in Kalter-Kriegs-Pathetik jubilierte.

Bis zum Mauerbau wurden in den schmuddligen Baracken über 1,1 Millionen Menschen untergebracht – in der Regel nur für einige Tage, bis sie aus dem belagerten Schaufenster der freien Welt in das Bundesgebiet ausgeflogen wurden. Mit dem Mauerbau verebbte über Nacht der Zustrom der Menschen aus „Mitteldeutschland“, wie das namenlose Gebilde damals nahezu unwidersprochen firmierte. In den acht Jahren bis 1969 gelangten insgesamt nur noch 45.000 Menschen aus der DDR in die Notaufnahme.

Wer im Notaufnahmelager Marienfelde anlangte, war in Sicherheit, doch sicher fühlten sich nur wenige. „Untereinander sprechen sie kaum, weil sie sich gegenseitg mißtrauen müssen“, erinnern sich Zeitzeugen.

Mehrfach wurden Agenten der Stasi entlarvt, die sich als Flüchtlinge getarnt hatten. Ein spätes Schlaglicht dieser Zeiten war vor wenigen Tagen die Enttarnung des Leiters einer juristischen Beratungsstelle des Lagers als Stasi-Zuträger. Seine Bespitzelungen haben möglicherweise Hunderte von zurückgebliebenen Freunden und Verwandten der Flüchtlinge wegen Fluchthilfe in DDR-Gefängnisse gebracht – er selbst erhielt vor wenigen Jahren das Bundesverdienstkreuz.

Doch auch die westlichen Geheimdienste nutzten das Lager. Alle Flüchtlinge wurden von den Alliierten Dienststellen vernommen und durften ihren guten Willen dabei beweisen, den Kommunisten durch umfassende Preisgabe ihres Wissens zu schaden.

Die DDR wiederum bemühte sich, das Notaufnahmelager in der „Frontstadt Westberlin“ als Vorhölle des verderbten Kapitalismus zu zeichnen. Dort warte nur das Elend, wurde gewarnt.

„Wer nach der Zählung nicht für Spionage taugt, der ist ein überflüssiger Esser, ist im Wege“, reportierte Neues Deutschland im Juli 1959 über eine Flüchtlingsfamilie, die angeblich sechs Jahre im Lager dahinvegetierte, bevor sie den Weg zurück ins Glück der DDR fand.

Die tiefste Tiefe des familiären Unglücks ist während der Entbindung im trüben Licht der Baracke erreicht: „Mit unbewegter Miene hantierte die Hebamme. Und während zartes neues Leben geboren wurde, überschütteten sich draußen auf dem Hof die Lagerinsassen mit Unflat, kreischten die Kinder, schluchzte laut und durchdringend irgendwer in einem Nachbarraum, torkelten Betrunkene im Lager herum, lagen auf der Erde, erzählten widerliches Zeug und Zoten, gaben sich gleich neben dem Zaun am hellichten Tage Frauen den Männern hin, nahm das Lagerleben mit all seinem Elend, mit seinem Schmutz seinen Fortgang.“

Nach dem Mauerbau jahrelang nahezu verödet, füllten ab Mitte der siebziger Jahre die deutschen Aussiedler aus Osteuropa die niedrigen Gebäude an der Marienfelder Allee. Mit dem Verbot von Solidarność und der Verhängung des Kriegsrechts 1981 kamen Tausende aus Polen, die zumeist einen Status als „deutschstämmig“ reklamierten. Wegen des Formular-Marathons mußten die Menschen durchschnittlich sechs Monate im Lager leben.

Ihnen folgte ab 1984 eine steigende Zahl von Übersiedlern aus der DDR – die SED versuchte auf diese Weise, der Überdruck an Unzufriedenheit zu mindern. Das Zusammenleben ist unerfreulich. Zwischen den beiden Gruppen „kommt es im Zusammenleben aufgrund ihrer unterschiedlichen Herkunft nicht selten zu Spannungen“, räumt die Verwaltung verschämt ein.

Der sich ankündigende Zusammenbruch im Osteuropa läßt sich Ende der achtziger Jahre in Marienfelde erneut wie auf einem Seismographen ablesen. Im Jahre 1988 sind es nahezu 26.000 Aus- und Übersiedler und Flüchtlinge, die nach Berlin strömen.

Mit behelfsmäßig aufgestellten Wohncontainern werden die Menschen untergebracht, und der Regierende Bürgermeister Momper meldet „Land unter“: Die „Insel“ sei voll, das „Festland“, sprich Bonn, müsse endlich helfen und die Menschen, die teilweise bis zu einem Jahr in Marienfelde sitzen, schneller in die Bundesrepublik verteilen.

Alle Bemühungen aber, in dem bereits hoffnungslos überfüllten Lager wieder normale Verhältnisse herzustellen, sind vergebens, als im Herbst 1989 nach der Maueröffnung Zehntausende nach Marienfelde kommen.

Auch die abgebrühten Mitarbeiter sind im Chaos nicht mehr in der Lage, mit gewohnt deutscher Gründlichkeit den Amtsweg einzuhalten. Die Menschen werden in Notunterkünfte auf die gesamte Stadt verteilt; kurzzeitig wird sogar der Zuzug nach Berlin untersagt. Einzige Hoffnung der genervten MitarbeiterInnen in den historischen Tagen des November: „Achtzig Prozent gehen wieder zurück. Wenn die erst mal vier Wochen in einer Turnhalle oder einem Container verbracht haben, werden sie sich sehnen nach ihren gemütlichen Wohnungen in Ost-Berlin.“

Rückblickend mögen sie mit dieser Prognose nicht falsch gelegen haben. Doch auch nach der Auflösung der DDR hat Marienfelde nicht ausgedient. Vielmehr sorgen die geopolitischen Verwerfungen für neue Menschenströme. Das Lager, im Juli 1990 umbenannt in „Zentrale Aufnahmestelle des Landes Berlin für Aussiedler“, beherbergt jetzt zu über neunzig Prozent deutschstämmige Aussiedler aus den GUS-Staaten. Gerd Nowakowski