Immer mehr Kinder auf der Flucht vor der Familie

■ Kindernotdienst betreute seit Januar 844 Kinder / 80 Prozent aus Ostberlin

In das Kreuzberger Haus kommt eine Sozialarbeiterin mit zwei verheulten kleinen Jungen in Schlafanzügen. Die Kinder sind aus der Wohnung der Mutter herausgeholt worden, weil diese schon seit dem Vorabend verschwunden war. Als am nächsten Tag nichts mehr zu essen da war, rief der Fünfjährige die Oma an.

Jeden Tag betreut der Notdienst etwa zehn derartige Fälle. „Berlin ist absoluter Brennpunkt, was die Gewalt in der Familie angeht“, sagt Sozialarbeiter Josef Lenerz, der in kritischen Situationen – gegebenenfalls mit Polizeischutz – Kinder aus den Wohnungen ihrer Eltern holt.

Die Kriseneinrichtung ist rund um die Uhr in Bereitschaft und betreut jetzt fast doppelt so viele Fälle wie vor der Wende. „70 bis 80 Prozent der Kinder kommen aus den Ostbezirken“, so Dienstleiter Droescher. Zu den Ursachen der Gewalt gegen Kinder zählt er Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit, Alkoholismus und den Zerfall von Familien. „Bürgerliche Klientel haben wir fast überhaupt nicht mehr, sondern eher Familien, die in der Sozialamtsmaschinerie stecken“, erklärt Droescher. Allein von Januar bis August sind 844 Kinder im Notdienst gelandet. Darunter auch ein drei Monate altes Baby, das zwei Tage lang nichts zu trinken bekommen hatte. Es hat mit viel Glück überlebt. Verwahrlosung, körperliche und sexuelle Mißhandlung zählen zu den häufigsten Vergehen der Eltern.

Die Telefone laufen meist in den Abendstunden und an den Wochenenden heiß – bis zu 80 Anrufe am Tag. Manchmal sind es Nachbarn, die hören, wie ein Kind geschlagen wird. Oft rufen aber die Kinder selber an: „Kannst du mir helfen?“

Einmal standen zwei acht- und zehnjährige Schwestern bei Lenerz vor der Tür, weil ihr Vater sie „immer so komisch anguckt“. Ihre ältere Schwester hatte er bis zu ihrer Heirat jahrelang sexuell mißbraucht. In solchen Situationen werden die Kinder auch gegen den Willen der Eltern aufgenommen, um sie zu schützen. Anzeige werde jedoch nicht erstattet. „Wir zwingen den Vater in derartigen Fällen, die Familie sofort zu verlassen“, sagt der Sozialarbeiter. Die Unterbringung der Kinder im Heim gelte als allerletzte Möglichkeit, aber für manche sei das im Vergleich zur elterlichen Wohnung „ein Paradies“. Caroline Walter/dpa