60 Stunden Sport am Stück

Das Geheimnis der „Eisernen Lady“ Astrid Benöhr: Die vierfache Ultratriathletin auf einer Gratwanderung zwischen Sucht und Emanzipation  ■ Von Cornelia Heim

Berlin (taz) – Sie schwimmt 15 Kilometer, radelt 720 und läuft 168. Am Stück und ohne Schlaf. Macht summa summarum 59 Stunden und 15 Minuten. Das ganze nennt sich Sport, genauer vierfacher Ultra-Triathlon. Es ist, als ob sie den Bodensee durchquere, auf einer Rad-Tour von Singen nach Berlin strampele und anschließend von Berlin nach Leipzig liefe.

Gestatten: Astrid Benöhr, 35, Mutter von drei Kindern und Inhaberin dreier Weltrekorde. Ein Persönchen von Frau, 166 Zentimeter groß und 51 Kilo leicht, ohne die Andeutung einer Fettzelle auf den Rippen, die Gesichtshaut ausgetrocknet vom Wasser und der permanenten Verbrennung der letzten Fettreserven. 25 Stunden Training pro Woche, 30 Wettkämpfe im Jahr hinterlassen ihre Spuren. Astrid Benöhr sieht man die Ausdauersportlerin an: Sie wirkt zäh, aber auch ausgemergelt.

Eine Verrückte? Die Frage hört sie ständig. Und sie pflegt darauf zu antworten, es käme nur darauf an, das richtige Maß zu finden. Flucht? Kompensation? Vereinzelung? Das mag sie nicht hören. Jeder Wettkampf sei eine „Reise in eine andere Welt“, aus der sie als „anderer Mensch“ hervorgehe. Wenn sie nach Sinn oder Unsinn ihrer Leibesübungen gegen die Stundenuhr befragt wird, weicht sie aus: Es habe sich nun mal gerade so angeboten. Außerdem mache es Spaß. Und schließlich sei der Mensch zu unheimlichen Leistungen fähig.

Läßt man sie länger reden, wird man hellhörig – diese Sprachmetaphorik: Vokabeln wie „Last“, „Gefangensein durch die frühe Schwangerschaft“, „Sachzwänge“ gehen ihr laufend über die Lippen. Ausdauernde Gewaltanstrengung scheint für sie Belastungsprobe und Befreiung von Ketten zugleich zu sein: Astrid Benöhr krault sich den Beziehungsstreß aus der Seele, strampelt sich die Sorgen um die Zöglinge von der Leber und rennt sich die kleinen Nöte des Alltags aus der Kuttel.

Seit neun Jahren rennt sie durch die Wälder, statt brav ihre Gardinen zu waschen, Topflappen zu häkeln. „Frauen wissen oft gar nicht, zu welchen Leistungen sie imstande wären.“ Astrid Benöhr, deren Lebensgefährte lieber Nikotinwölkchen nachschaut, statt Schweißperlen zu produzieren, geht gestärkt aus der „Reise“ ins eigene Innere hervor. Sie wisse jetzt erst, was Emanzipation wirklich meine: „Es gibt wenig, was ich mir nicht selbst zutrauen würde.“

Mit dem Rauchen wollte Astrid Benöhr aufhören. Mit harmlosem Joggen fing sie an. Und allmählich wurde aus der Nikotinsucht eine Abhängigkeit von Bewegung. Schrittchen für Schrittchen: Erst Triathlon, Marathon, 100-km- Lauf. Und als sie ihren ersten Iron- Man hinter sich gebracht hatte, kam eine Einladung aus Holland über die doppelte Distanz. Wieder kam eine Einladung, zum Triple- Triathlon. Und noch eine: zum vierfachen, vor wenigen Wochen in Ungarn. Immer weiter, immer länger. Sport, eine Sucht? Professor Johannes Dickhuth vermutet, ja. Nach Ansicht des Tübinger Sportmediziners, der vor allem Marathonläufer betreut, sei Triathlon allgemein ein Sammelbecken für ein ganz bestimmten Typus Sportler: „Leute mit einem verminderten Kontaktbedürfnis, introvertierte, die eine auffällige Beziehung zu ihrem Körper haben, manche, die zu Bulimie oder Anorexie neigen.“ Professor Wildor Hollmann; Leiter der Kölner Sporthochschule, bescheinigte Astrid Benöhr beste Gesundheit, sie sei genetisch prädestiniert zum Langstreckensport durch eine extrem hohe Anzahl an „langsamen Muskeln“. Jede zweite Marathonläuferin hat keine Menstruation mehr. Die Hormonproduktion reduziert sich auf das Niveau der Wechseljahre. Die Gefahr besteht, daß Knochen porös werden. Professor Dickhuth: „Gesundheitssport ist das keiner mehr.“

Ein Ultra-Triathlon verheizt rund 10.000 Kalorien. 40.000 verbrennt Astrid Benöhr also in 60 Stunden, der normale Büromensch etwa 2.500 täglich. 20 Müsliriegel, zehn Bananen, jede Menge Käsebrote und Zwieback verdrückt die 35jährige Kölnerin auf ihrem 60stündigen Trip. Astrid Benöhr trinkt einen Liter Flüssigkeit pro Stunde. „Der Wille ist das Wichtigste“, sagt die Weltrekordinhaberin über die zwei-, drei- und vierfache Ultra-Distanz. Im Grunde genommen könne jeder diese Strecken bewältigen. Die Tour de France sei viel schwieriger.

Der Tübinger Sportmediziner geht weiter und behauptet, mit dem ursprünglichen sportlichen Gedanken habe ihr Tun nichts mehr gemein, weil die Geschwindigkeit keine Rolle mehr spiele. Athleten, denen in herkömmlichen Disziplinen der Erfolg versagt geblieben ist, wechselten gerne ins Extremfach. Dort werde die Intensität so gedrosselt, daß es eher auf psychische Härte denn auf Kondition ankomme. Auch Astrid Benöhr weiß, daß sie schon im Marathon chancenlos wäre. Sie läuft den Kilometer in vier bis fünf Minuten, ein Tempo, das jeder halbwegs geübte Jogger mitgehen könnte.

Also Ausdauersport für ausdauernd Erfolgshungrige? Astrid Benöhr kann von ihrem Sport leben. Als Rekorde fielen, fielen auch Sponsoren in die Haustür. 5.000 Mark im Monat plus Rekordprämie verdient die gelernte biologisch-technische Assistentin laut eigenen Angaben „mindestens“.

Wann sie ihr Maß erreicht habe? „Mal schauen“, sagt sie, „je nach Lust und Laune.“ Vielleicht reize sie noch der fünffache Ultra. Der zehnfache Ultra in Mexiko schädige wohl schon das Immunsystem, räumt sie ein. Und: „Man muß eben immer spüren, was gut für einen ist.“