: Das Amazonien des Nordens
An Kanadas Westküste stehen die größten Regenwälder des Nordens / Aber die werden abgeholzt / Am Montag 300 Demonstranten festgenommen ■ Von Joachim Krautz
Berlin (taz) – Im Urwald an Kanadas Pazifikküste sind zu Wochenbeginn fast 300 protestierende Umweltschützer festgenommen worden, darunter Mütter mit Babies und Alte. Sie hatten den Weg für Holzfäller blockiert, um einen der letzten nördlichen Regenwälder zu retten. Die größte Massenfestnahme in der Geschichte der westlichsten Provinz British Columbia ist der bisherige Höhepunkt fünfwöchiger Proteste auf der Vancouver-Insel. Die Provinzregierung hatte Anfang Juli einen Teil des bislang unberührten Waldes für den Holzschlag freigegeben, worauf Umweltschutzgruppen eine Kampagne des zivilen Ungehorsams mit täglichen Straßenblockaden begannen.
Die Proteste sind die neueste Facette der inzwischen weltweiten Kritik an der Forstpolitik Kanadas. Das zweitgrößte Land der Erde hat immer größere Schwierigkeiten, seine ökologisch weiße Weste in der Außendarstellung zu behaupten. Die protestierenden Waldschützer bekamen bereits Besuch vom amerikanischen Umweltanwalt Bobby Kennedy jr. sowie der australischen Rockgruppe Midnight Oil.
Nach einer Studie des World Wide Fund for Nature (WWF) aus dem letzten Jahr wird in fünfzehn Jahren der größte Teil der schützenswerten Bestände des gemäßigten Regenwaldes in Kanada verschwunden sein – es sei denn, die Holzeinschlagquote würde drastisch gesenkt. Ist Kanada, die vermeintlich letzte Wildnis der nördlichen Hemisphäre, inzwischen das Amazonien des Nordens?
Kanadische Holzfirmen wie MacMillan Bloedel und Interfor, aber auch ausländische Konzerne wie Mitsubishi können sich bei ihrer Kahlschlagpraxis auf die Rückendeckung durch eine eigenartige, für sie besonders günstige Gesetzeslage verlassen: In Britisch- Kolumbien gibt es kein Gesetz, das die Forstwirtschaft explizit regelt. Es gibt lediglich einen Wust von unverbindlichen Richtlinien, an die sich niemand hält. Daß dem immer noch so ist, obwohl seit 1912 bisher noch jede Forstkommission in Britisch-Kolumbien einen dringenden Handlungsbedarf erkannt hat, zeigt nach Ansicht von Umweltschützern, wie verfilzt Regierung und Holzindustrie sind.
Die meisten Pachtkonzessionen für die Waldnutzung wurden den Konzernen in den fünfziger Jahren erteilt. Sie gaben der Forstindustrie die legale Möglichkeit, die Urwälder British Columbias in Nutzwälder umzuwandeln. 80 Prozent der Abholzungen in der Region haben denn auch seit 1970 stattgefunden. Die Konzerne betrachten den Pachtmodus inzwischen als institutionalisiertes Recht.
Die Holzindustrie wollte zwar nach eigenem Bekunden die riesigen kahlgeschlagenen Areale mit schnellwüchsigen Baumarten, in Monokulturen gepflanzt, wieder aufforsten. Doch nicht einmal dies gelang. Einmal sparten die Konzerne an der Waldpflege nach dem Einschlag, zum anderen machten die immensen Humusverluste auf den erosionsgeschädigten Böden den jungen Trieben zu schaffen. Mittlerweile wird selbst auf höchster Regierungsebene zugegeben, daß in Kanada jährlich kahlschlagbedingte Erosionsschäden von 80 Millionen kanadischen Dollar (120 Millionen Mark) entstehen. Und das ist erst der Anfang: Inzwischen holzen die Konzerne nämlich auch an bislang verschonten Berghängen ab, wo die Gefahr der Bodenerosion noch um ein Vielfaches höher ist.
Obwohl der gemäßigte Regenwald nur vier Prozent der Gesamtfläche Kanadas einnimmt, beträgt sein Anteil an der gesamten Biomasse des Landes über zwanzig Prozent. Neben den gewaltigen Baumriesen – manche der Zedern und Hemlocktannen sind bis zu 2.000 Jahre alt – ist dies vor allem dem immensen Artenreichtum dieser einzigartigen Naturlandschaft zu verdanken. Der Verlust der Arten- und vor allem der genetischen Vielfalt stellt nach Ansicht des Vancouver Ökologieprofessors Evelyn Pielou das Hauptproblem des Kahlschlags dar. Selektiver Holzeinschlag ist nach Pielou die einzige Möglichkeit, die genetische Viefalt trotz – beträchtlich reduzierter! – Waldnutzung für zukünftige Generationen zu erhalten.
In den letzten zwanzig Jahren hat sich in Britisch-Kolumbien eine breite Allianz von weißen Umweltschützern und den ansässigen Ureinwohnern der betroffenen Gebiete gebildet. In dem Maße, wie die Forstindustrie die Abholzung vorantrieb, wuchs die Bereitschaft zum Widerstand, um die letzten noch intakten Urwaldgebiete zu retten. Schon vor den Protesten der vergangenen Wochen wurden über 100 Personen wegen Straßenblockaden und anderer friedlicher Störmanöver, die gegen den Holzeinschlag gerichtet waren, zu Geldbußen und Gefängnisstrafen verurteilt. Bis zu vierzig Prozent des Holzes bleiben nach solchen Abholzaktionen in der Landschaft zurück, wie Garth Lenz von der Bürgerinitiative „Friends of Clayaquot Sound“ auf der Insel Vancouver Island behauptet: „Wenn die Industrie beispielsweise Zedern braucht, dann wird zuerst ein Waldstück niedergemäht; die Zedern werden mitgenommen, der Rest bleibt liegen.“
Die indianische Urbevölkerung leidet unter den Praktiken der Forstindustrie am meisten. Viele der Indianer auf den Reservaten Britisch-Kolumbiens leben noch nach Art ihrer Vorväter: von der Jagd und vom Fischfang. Insbesondere letzteres kann mittlerweile zu schweren Gesundheitsbeeinträchtigungen führen, denn durch die angesiedelte Papierindustrie sind viele Flüsse in der Region hochgradig verschmutzt worden. Gleichwohl werden in den Papiermühlen keine indianischen Arbeiter beschäftigt. Die Arbeitskräfte holen sich die Firmen von auswärts. Eine von der Regierung in Auftrag gegebene Studie hat gezeigt, daß auf der Insel Vancouver Island beispielsweise fast ein Drittel aller Fischgewässer keine Fischbestände mehr aufweist.
Auch Kanada hat im vergangenen Jahr beim Umweltgipfel in Rio das Abkommen zum Schutz der biologischen Vielfalt mitunterzeichnet. Ein Schritt, der den Umweltschützern als Argument dient, wenn sie bei den europäischen Kunden der kanadischen Holzindustrie gegen den Raubbau am Wald protestieren. Schließlich werden achtzehn Prozent aller kanadischen Forstprodukte allein nach England und Deutschland exportiert.
Es ist vor allem der Vergleich Kanadas mit Brasilien, einem der Hauptabholzerländer in den Tropen, woran sich die Regierung stößt. Brasilien holzte 1988 1,3 Millionen Hektar Wald ab, Kanada reichlich eine Million Hektar. In Brasilien wird alle 43 Sekunden ein großer Baum gefällt, in Kanada sogar alle 30 Sekunden. Das dünn besiedelte Land, das im Bewußtsein vieler Europäer als Synonym für wilde, unberührte Natur schlechthin gilt, bangt um seinen Ruf.
Es verwundert daher nicht, daß sich die Provinzregierung Britisch- Kolumbiens mit der Bundesregierung und der Industrie zusammentat, um durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit Kanadas lädiertes Image wieder aufzupolieren. Eine der ersten Gegenmaßnahmen war es gewesen, Michael Harcourt, Britisch-Kolumbiens neu gewählten Premierminister von der Neuen Demokratischen Partei, im Frühjahr über den Großen Teich zu schicken. Harcourt gestand Fehler im Umgang mit den Ureinwohnern und in der Forstpolitik ein. Er betonte jedoch gleichzeitig, daß diese unter seiner Regierung behoben würden. Umweltschützer jeder Couleur behaupten jedoch, daß sich allen Beteuerungen zum Trotz nicht viel geändert habe. Vor allem das Tempo, mit dem abgeholzt würde, sei gleichgeblieben. Die Ökologen wollen die Europäer mit gut belegten Statistiken zu einem Boykott kanadischer Forstprodukte bewegen. Vor allem Deutschland, das achtzig Prozent seiner Papierrohstoffimporte aus Kanada bezieht, haben sie dabei im Visier.
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