Sage mir, wie du schreibst ...

■ Die Hamburger Schriftschule lehrt nicht nur schön schreiben, sie schärft auch den Blick für typographische Stilblüten

Kleine Knochen, Strohhalme oder Pappspachtel taugen dafür genauso wie Holzreste, Scherben und Muscheln. Selbst die eigenen Finger oder Messer und Gabel eignen sich für das Unterfangen, neu schreiben zu lernen - und das ganz buchstäblich von A bis Z. So jedenfalls lehrt die Hamburger Schule für Schrift den Einstieg in die Kunst des Schönschreibens.

In dieser Schule werden schöne Handschriften nicht einfach der Gefälligkeit wegen gepriesen und geübt, sondern es gilt, den Eigen-Sinn wieder zu erkennen, mit dem alle Schriftlichkeit - Schriftform und Inhalt des Geschriebenen - über simple Informationsvermittlung hinaus vielsagend ist. Geschult wird deshalb nicht nur das kunsthandwerkliche Können, sondern auch der kritische Blick, der im Zeitalter des Computers mit seinen typographischen Stilblüten besonders vonnöten scheint.

Die Schrift der römischen Imperatoren

Alle Schriftarten lassen sich auf den lateinischen Schrifttypus zurückführen, dessen Geschichte weiter zurückreicht als die des Neuen Testaments. Schrift ist - damals wie heute - in dopppelter Hinsicht bedeutsam. Sie dient nicht nur der abstrakten Verklausulierung von Information, sondern darüber hinaus auch ganz konkret dem Ansehen: Die klassische, in Stein gemeißelte Monumentalschrift des Römischen Imperiums setzt auf ein simples Formenkonzept mit den Grundfiguren Quadrat, Kreis und Dreieck. Dadurch erscheint sie nicht nur klar, linear und pragmatisch, sondern repräsentiert in ihrem Duktus auch die Autorität der römischen Machthaber und die vermeintliche Erhabenheit dieser Epoche.

Später entwickelte sich aus dieser „capitalis monumentalis“ die Unziale, eine abgerundete Buchschrift, die um einiges dekorativer und dynamischer wirkt. Dieser Schrifttypus etablierte sich zu dem Zeitpunkt, als das Christentum zur Staatsreligion des Römischen Reiches erhoben wurde und der neue Glaube in Schriftform verbreitet wurde. Kopien von Bibeltexten wurden schon damals als erlesene Kostbarkeiten gehandelt und mit äußerster Sorgfalt hergestellt - in allerfeinster Handschrift. Mit der Unziale wurde das Schriftbild dem Pergament und der Federführung der Hand angepaßt. Von nun an spielten auch Zierbuchstaben und Ausschmückungen eine wachsende Rolle im Schriftbild.

Schreiben in Demut

Im frühen Mittelalter wurde die Schriftkunst hauptsächlich von Mönchen ausgeübt. Ihnen galt das Abschreiben der biblischen Texte gleichzeitig als Übung für die Vervollkommnung der klösterlichen Tugenden wie Kontemplation, Hingabe und unermüdliche Geduld. „Ora et labora“, dieser christliche Leitspruch, fand sich in der Schriftkultur der Klöster auf das Schönste verwirklicht, weil durch das gewissenhafte und zugleich kunstvolle Abschreiben Gebet und Arbeit eins werden konnten.

Die Verbindung zwischen mühevollem Tun und geistiger Reinheit blieb auch noch bestehen, als sich die Schreiberei allmählich zu einer weltlichen Zunft entwickelte und handgeschriebene Bücher Prestigeprodukte geworden waren. Denn von den Lehrlingen des Handwerks wurde erwartet, daß sie körperliche Lüste und Laster mönchisch im Zaume hielten, um sich eine der Schreibkunst würdige Geisteshaltung anzuerziehen.

Daß stundenlanges, konzentriertes Abmalen von Schriftzeichen tatsächlich Meditationscharakter annehmen kann, erfahren auch die Lernenden der Schule für Schrift. Das sogenannte disziplinierte Schreiben fordert wahrlich klösterliche Selbstbeschränkung: Die Schülerinnen und Schüler müssen Reihe um Reihe das gleiche a oder b niederschreiben, in schier endloser Wiederholung, bevor schließlich mit einem weiteren Buchstaben die Prozedur von Neuem beginnen darf. So viel Zeit und Energie die Anstrengung auch koste, sie wirke dabei immer auch entspannend, versichert Jens Rademacher, der seit Ende vorigen Jahres an der Schreibschule unterrichtet.

Ein Quäntchen Meditationslehre steckt auch in den freien Übungen der Einstiegsphase. Das Herumprobieren mit Materialien und Formen, wie zum Beispiel mit Knochen und Strohhalmen, das Üben von Schreib- und Drucktechniken, der gegenseitige Austausch von Erfahrungen ist fester Bestandteil der Schreiblehre. Doch der Gebrauch der Feder wird erst erlaubt, nachdem die Lernenden eigenhändig herausgefunden haben, daß auch gänzlich unorthodoxe Schreibinstrumente genutzt werden können, wenn sie nur Flüssigkeit auf- und wieder abzugeben vermögen.

Die angehenden Kunstschreiber und -schreiberinnen sollen dabei ihre Verbundenheit mit der bisherigen Schreibkultur auf die Probe stellen. Sie sollen versuchen, sich von ihrer persönlichen Handschrift und von allen ihnen bekannten Buchstabenbildern zu lösen, um so die Sinne für neue ästhetische Formen zu schärfen. Was kein Kinderspiel ist. Denn althergebrachte Buchstaben gewinnen allzuschnell wieder die Oberhand über die streng bedeutungslosen Zeichen, die nur mit viel Phantasie und Hartnäckigkeit gewonnen werden können.

Die Schreibschule

Die Schule für Schrift wurde im Dezember 1991 von Martin Andersch gegründet. Nach langjährigen Schriftprojekten in der Fachhochschule Armgartstraße, wo er als Professor lehrte, konnte er zusammen mit seiner Frau Gisela Andersch und seiner „Meisterschülerin“ (Schulbroschüre) Renate Fuhr-mann im Haus der Katholischen Akademie seine Schriftschule eröffnen, die dem Institut für interdisziplinäre Kultur- und Medienforschung (IKM) angegliedert ist.

Die Schule bietet semesterweise Kurse für Anfängerinnen und Anfänger sowie für Fortgeschrittene an. Die praktische Arbeit wird durch Vorlesungen, Dia- und Filmabende sowie Exkursionen zu Museen und Bibliotheken ergänzt. Alle, deren Hobby-Etat den nicht ganz niedrigen Semesterpreis von 850 Mark erlaubt, können hier lernen. Die Klientel reichte bislang von der Setzerin über den Physiklehrer bis zur Ärztin.

Renate Fuhrmann, die heutige Leiterin der Schule, betont, daß es keineswegs darum gehe, „in nostalgischer Sehnsucht nach des Schreibers Klause“ die lupenreine Kunst der Kalligraphen, der Schreibkünstler, einfach nur nachzuahmen. Sie wolle nicht vom Elfenbeinturm aus gegen den Sündenfall der Gutenbergischen Buchdruck-Erfindung nachträglich zu Felde ziehen. Es sei das Kunsthandwerkliche, das Schüler und Lehrer reize. Es gelte, den Gefallen am Medium Schrift ganz handfest wiederzuentdecken und die Doppeldeutigkeit der Schrift zu verstehen. Denn neben dem Inhalt des Geschriebenen vermittelt auch die Schriftform, das Aussehen der Buchstaben einiges an Information.

In der jüngeren deutschen Schriftgeschichte führte dieser ästhetische Charakter eines Schriftbildes zu einer wechselhaften Karriere, die inzwischen fast in Vergessenheit geraten ist: Viele, die heute beim Lesen auf die altdeutschen, sogenannten gebrochenen Schriften stoßen, denken sofort an bieder-rustikales Gaststättengewerbe und Deutschtümelei. Und das nicht ganz zufällig. Denn die Nationalsozialisten belegten jahrelang die Frakturschriften mit schwülstigem Nationalpathos, und dieser Mief hängt dem altdeutschen Schriftbild bis heute an. Doch dies ist nur ein Teil der Wahrheit.

Die Nazi-Schrift

Weil sich die Frakturschriften seit dem 16. Jahrhundert fast nur noch im deutschsprachigen Raum durchsetzen konnten, waren die schnörkelreichen Varianten den Nazis gerade recht, um sie zum pompösen Signum des verklärten Germanentums zu erheben. Großspurig trieben sie die Fortentwicklung von gotischen und pseudogotischen Buchstabenschlaufen voran, bis sie bei ihrer Suche nach immer deutscheren Bögen und Kurven plötzlich eine Kehrtwende in ihrem Schriftbildverständnis machten: Nun hatten die „Schwabacher Judenlettern“ per Verbot von der Bildfläche zu verschwinden.

Mit ihnen verschwand fast eine ganze Schrifttradition, die - bevor sie in die Fänge des „Dritten Reiches“ geraten war - erfolgreich zu eigenen Formen gefunden hatte, die abseits vom ästhetischen Anlehnungsbedürfnis an die Antike lag. So wurde die sogenannte Antiqua zur offiziellen Staats-Schrift bestimmt, ein Stil, der sich eng an klassich-römische Vorbilder hält und den die Nationalsozialisten zunächst als „nicht-arisch“ verworfen hatten. Unser Empfinden, Antiqua sei die Normalschrift, ist also genau genommen ein Relikt aus Nazideutschland.

Welches Selbstverständnis hinter einer Schrift steht, ist darum nicht gleichgültig. In der Schule für Schrift wird geübt, Begriffe und ganze Texte per Handschrift zu interpretieren. Lehrziel ist ein expressiv-subjektives Arbeiten, bei dem der gekonnte Umgang mit historischen Lettern und die Vertrautheit der Hand mit den vielerlei vorgeschriebenen Rundungen, Bögen und Häkchen erst die künstlerische Interpretation ermöglichen. Neue ästhetische Formen, wenn sie denn wirklich aussagekräftig sein sollen, entstehen nunmal in Auseinandersetzung mit den früheren Kategorien, nicht fernab von ihnen - so die These von Renate Fuhrmann.

Die Psychologie der Schrift

Auch der Schulgründer Martin Andersch vertrat diese Auffassung. In seinem Buch Spuren, Zeichen, Buchstaben kritisiert er unter anderem die herkömmliche Schreiberziehung an deutschen Grundschulen: Die Schwung- und Schönschriftübungen nennt er kurz und bündig „stupide“, ihre Folgen „formalästhetische Indifferenzen und Häßlichkeiten“. Er arbeitete konsequenterweise an einer Schreiblehre für Grundschulen, die den Kids die Lust an komplizierteren, ja ornamentalen Formen durchaus zutraut. Das Projekt konnte er nicht mehr beenden, denn vorigen November starb der 71jährige.

Ein eher psychologisches Projekt verfolgt Renate Fuhrmann in der Schule für Schrift. Analog zu musiktherapeutischen Übungen will sie eine Methode entwickeln, die mit dem individuell-kreativen Ausdruck einer Handschrift arbeitet. Die Stärke einer solchen zukünftigen Schrifttherapie könnte in der engen Verbindung zwischen dem Inhalt des Geschriebenen und der Schriftform selbst liegen. Allzu simple Kategorisierungen lehnt Frau Fuhrmann jedoch ab.

Dieser möglicherweise psychologisch lesbare Zusammenhang wird in der Schule für Schrift auch für Schreibübungen genutzt. So sollen Wörter wie „Mond“, „Europa“ oder „Krieg“ kalligrafisch interpretiert werden. Es gilt zu erkennen, wieviel Spannung in der Form liegt, wieviel Behaglichkeit oder Maniriertheit ein Begriff verträgt, oder welche Spitzen, Rundungen und Ellipsen dem schriftlichen Ausdruck die treffende Form geben.

Bei solch hohen Ansprüchen an die Sensibilität brauchen die Lernenden mehr als nur Geduld und Spucke: „Der 'Mond' geht mit Ihnen, Tag und Nacht“, resümiert die Schriftschülerin Irene Heumann ihre wochenlangen Versuche, per Schriftzug ihre persönliche „Mond“-Auslegung zu finden - unterstützt von Aquarellfarbe, Plakatfeder und Humanistischer Kursive.

Dorothea Schüler

IKM, Herrengraben 4; Beginn des neuen Semesters: 19. August.