Chile: Wo sind die Toten der Diktatur?

Präsident Aylwin will Menschenrechtsverfahren beschleunigen, doch sein Handlungsspielraum ist beschränkt / Militär verweigert Zusammenarbeit / Opposition: „verdeckte Amnestie“  ■ Von Astrid Prange

Rio de Janeiro /Santiago (taz) – Chiles Präsident Patricio Aylwin sitzt zwischen allen Stühlen. Nachdem er am vergangenen Dienstag dem chilenischen Parlament einen Gesetzentwurf zur Beschleunigung von zweihundert Menschenrechtsverfahren vorlegte, regt sich allgemeiner Widerstand. Die Militärs weigern sich, als „Kriegsverbrecher“ vor Gericht gestellt zu werden. Die Angehörigen von Opfern der chilenischen Militärdiktatur (1973-1989) jedoch sehen in dem Vorschlag eine „verdeckte Amnestie“.

Eine Gruppe von Angehörigen der als vermißt gemeldeten Regimegegner begann gestern in der Hauptstadt Santiago aus Protest gegen die Aylwin-Initiative einen Hungerstreik.

Pinochet ist noch immer überzeugt, er habe das Land vom Kommunismus befreit

Die Gesetzinitiative Aylwins sieht die Ernennung von speziellen Richtern vor, die den Ermordungen und Verschleppungen von Regimegegnern im Zeitraum von 1973 bis 1978 nachgehen sollen. Nach offiziellen Angaben betreffen die 200 ausstehenden Verfahren insgesamt 421 Opfer. Nicht geklärt ist in dem Entwurf des Präsidenten, der noch vom chilenischen Parlament verabschiedet werden muß, die Behandlung von etwa 600 Prozessen, die von der chilenischen Justiz bereits archiviert wurden.

„Die chilenischen Streitkräfte lassen sich nicht dafür auf die Anklagebank schicken, daß sie das Vaterland gerettet haben“, erklärte Pinochet verärgert anläßlich der Bemühungen Aylwins um eine „nationale Versöhnung“ vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Dezember dieses Jahres.

Der Ex-Diktator ist nach wie vor fest davon überzeugt, Chile vom Kommunismus befreit zu haben. Bei diesem „unkonventionellen Krieg“ sei es auf beiden Seiten zu Exzessen gekommen. Doch dies sei kein Grund, daß seine Untergebenen nun wie Kriegsverbrecher gerichtet würden, meint Pinochet. Der „unkonventionelle Krieg“ Pinochets hat nach Angaben der „Rettig-Kommission“ 2.279 Tote gefordert. Weitere 981 Regimegegner gelten weiterhin als „vermißt“. Die Kommission unter der Leitung des Juristen Raul Rettig wurde 1990 von Aylwin gegründet, um die Bewältigung der dunklen Vergangenheit des Landes in Gang zu bringen. Mit Ausnahme des ehemaligen Vorsitzenden der chilenischen Geheimpolizei (Dina), General Manuel Contreras, der am 21. September 1976 den ehemaligen Außenminister Allendes, Orlando Letelier, umbringen ließ, steht bis jetzt noch keiner der verantwortlichen Militärs vor Gericht (die taz berichtete). Die Vertreter von Menschenrechtsgruppen fürchten, daß dies auch in Zukunft so bleiben wird. Denn General Pinochet verhängte bereits 1978 in weiser Voraussicht eine Amnestie. Ausgerechnet in den ersten fünf Jahren der Militärdiktatur jedoch war die Verfolgung politischer Gegner besonders intensiv.

„Solange ich nicht die körperlichen Überreste zu Gesicht bekomme, weiche ich nicht von der Stelle“, droht Mireya Garcia. Seit dem 30. April 1977 gilt ihr Bruder Vincente Israel Garcia als verschwunden. Wenn es den speziell für die Menschenrechtsverfahren ernannten Richtern nicht gelingt, eine Entführung nachzuweisen, könnte es sein, daß der Fall Garcia unter das Amnestiegesetz von Pinochet fällt. Die Menschenrechtsorganisation „Codepu“ (Comite de Defensa de los derechos del pueblo) verdächtigt Aylwin, vor den Streitkräften gekuscht zu haben. „Aylwins Gesetzinitiative öffnet der Straflosigkeit Tür und Tor“, urteilt die „Codepu“-Gründerin Fabiola Letelier.

Sowohl die Verbrechen als auch die Täter würden geheimgehalten, weil die Gerichtsverfahren unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfinden sollen. Außerdem, so die Anwältin, seien die Kompetenzen der Richter nicht eindeutig festgelegt. Bis jetzt sei nicht klar, ob sie zum Beispiel eine Grabaushebung anordnen könnten oder nicht. Fabiola Letelier, die es nach 14 Jahren Kampf als einzige Anwältin in Chile schaffte, den Prozeß gegen die Mörder ihres Bruders Orlando Letelier von der Militärjustiz an ein ziviles Gericht zu übertragen, will Pinochet einen weiteren Strich durch die Rechnung machen: Im Namen der „Codepu“ hat sie sich an den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte gewandt, um die Gültigkeit des während der Militärdiktatur verhängten Amnestiegesetzes überprüfen zu lassen. „Die Amnestie verletzt das unveräußerliche Recht der Opfer sowie der gesamten Gesellschaft auf eine unabhängige Justiz“, heißt es in der Kritik an Aylwins Initiative.

Auch Aylwin würde am Ende seines Mandates, das am 11. März 1994 ausläuft, zu gerne als Wegbereiter der nationalen Versöhnung in die chilenische Geschichte eingehen. Doch General Pinochet hat ihm die Hände gefesselt. Die im Jahre 1980 noch von dem Ex-Diktator verabschiedete Verfassung verbietet es dem Staatsoberhaupt bis 1997, die Streitkräfte einer zivilen Kontrolle zu unterstellen. Weiterhin hat sich Pinochet das Recht vorbehalten, neun Senatoren zu ernennen, um das politische Gewicht im chilenischen Kongreß zu seinen Gunsten zu beeinflussen.

Aylwins Vorstoß, die Verfassung noch vor den Wahlen im Dezember zu ändern, ist vor kurzem an der rechten Pinochet-Lobby im Parlament gescheitert. Bei den Ermittlungen für die 200 Gerichtsverfahren kann er erst recht nicht auf die Zusammenarbeit mit den Militärs rechnen.

Pinochet hat sich bereits schützend vor seine Untergebenen gestellt und erklärt, daß keiner weiß, wo die Toten sind. In einer Demokratie wäre diese Art von Gehorsamsverweigerung ein Grund zur sofortigen Entlassung. In Chile kann Staatsoberhaupt Aylwin dem Oberbefehlshaber der Streitkräfte noch nicht einmal drohen.