Der mühevolle Weg an die Regierung

Bündnis 90 und Grüne sind nach ihrer Vereinigung auf der Suche nach einer neuen Identität / Programm einer ökologischen und sozialen Politik unter Armutsbedingungen wird gefordert  ■ Von Dieter Rulff

Denken sie an Olympia, plagen Eberhard Diepgen und das Bündnis 90/Grüne die gleichen existentiellen Sorgen. Doch während der Regierende Bürgermeister seinen Stern im Niedergang wähnt, sollte das IOC am 23.September einer anderen Stadt den Zuschlag geben, sehen die Alternativen ihre Perspektiven getrübt, wenn Berlin Austragungsort der Spiele werden sollte. Die Grünen drängen mit Macht wieder an die Regierung, doch hadern sie noch mit dem Preis.

Die Fraktionärin Michaele Schreyer wünscht sich „für Berlin“ ab 1995 einen rot-grünen Senat und hofft zugleich, „daß der Olympiakelch an uns vorübergeht“. Auch das Ostberliner Mitglied des Gemeinsamen Ausschusses (GA), Uwe Dähn, findet es „schwierig, mit Olympia zu leben“, denn „das wäre innerorganisatorisch eine große Zerreißprobe“. Während der Bündnis-90-Abgeordnete Arnold Krause sich noch überlegt, „ob man Olympia mittragen will“, geht sein Fraktionskollege Bernd Köppl bereits nüchtern davon aus, daß die Austragung der Spiele beim Koalitionpartner in spe SPD „keine verhandelbare Position ist“. Er will deshalb „nicht auf eine Regierungsbeteiligung verzichten“, darum, so mahnt er seine Parteifreunde bereits im Vorfeld, dürfe man „keine unmöglichen Forderungen stellen“.

Die Aufforderung scheint überflüssig, denn die Zeiten, in denen die Grünen dem Motto „Seien wir Realisten, fordern wir das Unmögliche“ folgten, gehören der Vergangenheit an. Die Utopie ist einem nüchternen Pragmatismus gewichen. „Bei den Grünen sind traditionell linke Vorstellungen“, so Köppls Einschätzung, „ganz tot.“ Staatsinterventionistische Konzepte sozialistischer Herkunft sind gescheitert, ihre Protagonisten haben die Partei zum Großteil verlassen, privatisieren oder haben bei der PDS ein neues Betätigungsfeld gefunden. Für diejenigen, die diese Positionen und Personen jahrelang parteiintern befehdeten, ist dieser Trend jedoch nicht nur Anlaß zur Genugtuung. Es ist, so die selbstkritische Einschätzung des Ex-Realo Köppl, nichts nachgekommen. Auch Renate Künast, früher auf dem linken Parteiflügel angesiedelt, verortet die Grünen „im Loch“. Es gebe allenfalls „eine diffuse Übereinstimmung, was uns an der Gesellschaft schmerzt“.

Formelle Gleichheit von ungleichen Partnern

Der Mangel an Programmatik wurde in den letzten beiden Jahren durch die Vereinigung mit dem Bündnis 90 überdeckt. Eingeleitet wurde dieser Prozeß im Januar 1991 durch die Bildung einer gemeinsamen Fraktion im Abgeordnetenhaus, seinen Endpunkt fand er Mitte Juni dieses Jahres mit der Bildung eines gemeinsamen Landesverbandes der beiden Parteien. Dazwischen lagen enervierende Debatten um Satzung und Selbstverständnis, Integration und Identität. Ergebnis ist eine formelle Gleichheit der ungleichen Partner, eine exakt austarierte Parität in den Gremien und eine friedliche Koexistenz an der Basis.

Das Bündnis 90, das sich seit Gründung seiner Vorläuferorganisationen im Herbst 1989 in einem Dauervereinigungsprozeß befand, ist mittlerweile personell stark ausgeblutet. Es zählt noch 300 Mitglieder, von denen 200 aktiv sind. „Zuwenig“, findet das Ostberliner GA-Mitglied Christine Rabe, „die zuviel machen.“ Von daher hat die Stärkung der eigenen Reihen bei den Bündnis-Aktivisten oberste Priorität.

Die Werbung neuer Mitglieder gestaltet sich jedoch schwierig, ist man doch vor nicht allzu langer Zeit noch mit dem Button herumgelaufen „Parteien sind doof“. Angesichts dieser Eigenschwäche spürt Rabe schon, „wie stark die AL ist“, und auch Dähn mahnt seine Ost-Parteifreunde, „aufzupassen, daß ihre Interessen gegenüber den Westlern berücksichtigt werden.“ Soweit sich diese Rücksicht in Posten manifestiert, scheinen die Interessen auf absehbare Zeit gewahrt, doch, so Dähn, „die Quote in Gremien reicht nicht“.

Das Feld der Tagespolitik wird allerdings eindeutig von den Grünen dominiert, die nicht nur die zehnfache Mitgliederzahl vorweisen, sondern auch über einen eingespielten Politapparat verfügen. Sie geben in der Oppositionsarbeit die Linie vor, ihre Stimme ist zu vernehmen, wenn die Regierung attackiert wird. Melden sich Bündnis-Politiker zu Wort, so hat ihre Kritik häufig die Westberliner Parteifreunde zum Ziel – sehr zu deren Ärger. Auf manche Vorwürfe reagieren sie zunehmend ungehaltener. Für die Westpolitiker gehört die Vergangenheitsaufarbeitung der Vergangenheit an, auch wenn Dähn fordert, die Fraktion solle sich mit ihrer „Illusion über den Sozialismus in der DDR“ beschäftigen, oder wenn Rabe einklagt, „das Prinzip der Gewaltfreiheit“ müsse ausdiskutiert werden.

Ideen und Solotänzer ohne Choreographie

Diese latente Ost-West-Spannung in der Partei, die mit der Fusion vorerst gedrosselt wurde, wird nach Köppls Einschätzung dann „sofort aufbrechen, wenn wir an die Regierungsarbeit 'rangehen“. Der sattsam bekannte Fundi-Realo-Konflikt um die „Kröten“, die zu schlucken sind, um die Kompromisse, die mit dem Regierungspartner eingegangen werden, werde dann unter West-Ost-Vorzeichen wieder aufleben. Nicht nur deshalb sieht Köppl seine Partei „noch nicht bei der Regierungfähigkeit angelangt“. „Die Grünen“, meint auch Künast, „würden regieren wollen, würden aber nicht wissen, was sie tun müssen.“ Zwar gebe es eine Reihe von „brillanten Ideen“ und „Solotänzern“, doch keine „Choreographie“. Die Schwerpunkte der Politik müßten erst noch auf den Punkt gebracht werden.

Nicht nur die beiden Fraktionäre sehen ihre Partei vor der Aufgabe, ein Gesellschaftskonzept für eine ökologische und soziale Politik unter Armutsbedingungen zu formulieren. Denn in der Stadt haben sich die Voraussetzungen für eine rot-grüne Politik radikal gewandelt. Noch beim Probelauf als Regierungspartei 1989 konnten sich die Grünen damit begnügen, bei der Verteilung der staatlichen Ressourcen wesentliche Teile für sich zu erkämpfen. Politischer Fortschritt wurde daran gemessen, welcher Beitrag zur Befriedung der eigenen Klientel den Sozialdemokraten abgerungen werden konnte. Dieses der Mengenlehre entlehnte Koalitionsverständnis scheiterte, als sich mit der Öffnung der Mauer Aufgabenfelder auftaten, die quer zu den parteipolitischen Interessen lagen und auf die die Grünen mangels Konzept mit Verweigerung reagierten.

Bei einer erneuten Auflage des rot-grünen Regierungsbündnisses müßte auch der Grünen-Wähler mit Leistungsabbau und Restriktionen rechnen. Deshalb, so Künast, „müssen wir lernen, offensiv zu sagen, wir wollen wehtun“. Schmerzen dürften der eigenen Klientel nicht nur die Personalreduzierungen im Öffentlichen Dienst bereiten, die Köppl wie der Senat bei 25.000 Stellen ansetzt, weh tun wird ihm nicht nur die Umverteilung in den Osten, die auch unter Rot-Grün fortgesetzt würde; ungewohnt wird es den Grünen-Sympathisanten zudem in den Ohren klingen, wenn Künast für eine starke Wirtschaftsförderung eintritt und Köppl für eine stärkere Kontaktaufnahme zu Industrie und Banken plädiert. Dieses „kulturell schwierige Terrain“ zu akzeptieren, das weiß auch er, sei für seine Partei „einer der schwierigsten Lernprozesse“. Der dürfte für die Ostmitglieder allerdings leichter zu bewältigen sein, plagen sie doch bei Stichworten wie „Mittelstandsförderung“ und „Industriesubventionen“ keine ideologischen Vorbehalte.

Das Selbstverständnis der ganzen Partei ist tangiert

Wie schwierig der Lernprozeß jedoch für die Westberliner Alternativen sein wird, ist daran zu ermessen, daß sich die Partei – seinerzeit noch ganz auf Distanz zur staatlichen Politik – 1990 nur mit knapper Mehrheit für die Hauptstadtfunktion Berlins ausgesprochen hat. Mittlerweile ist auch den Grünen, egal ob rechter oder linker Flügel, die Präsenz von Bundestag und Bundesregierung notwendiger Garant für das Überleben der Stadt, ohne den auch sie sich eine Perspektive kaum vorstellen können.

Mit der neuen Rolle als Aufbau- und Wirtschaftspartei dürfte sich jedoch nicht nur mancher Altlinke unter den Alternativen schwertun, zu sehr ist das Selbstverständnis der gesamten Partei tangiert. Die Tragweite der Veränderung ist vergleichbar mit den Debatten, die in der damaligen Alternativen Liste zu Zeiten der Hausbesetzungen um die Fragen des Staatsverständnisses und der Gewaltfreiheit geführt wurden. Die Auseinandersetzung um die künftige Programmatik wird die Identität der Partei mehr beeinflussen als der Konflikt um Tolerieren oder Koalieren zu Beginn des Jahres 1989. Während seinerzeit bereits festumrissene Vorstellungen von den jeweiligen Alternativen existierten, operieren die Protagonisten zur Zeit eher mit verschwommenen Vorstellungen. Da fällt es ihnen auch schwerer, noch die politische Differenz zur SPD auszuloten. Künast sieht sie durch die „andere Kultur“ gewährleistet, die es den Grünen als „Grundhaltung“ erlaube, staatliche Strukturen in Frage zu stellen.

Es entspricht dieser diffusen Gewißheit über den eigenen Standort, daß Künast die aktuelle Debatte in ihrer Bedeutung mit der Gründungssituation der Grünen vergleicht. Trifft die Parallele zu, so kann sich das Bündnis 90/Grüne auf lange und heftige interne Diskussionen gefaßt machen. Angesichts dieser Perspektive beschleichen so manchen Funktionär ganz ungeahnte Ängste. „Das Schlimmste, was mir in meiner Amtszeit passieren kann“, so das frisch gewählte GA-Mitglied Dähn, „ist, daß nach Olympia der Senat platzt und wir noch nicht genug vorbereitet sind.“