Rußland: Neue Verfassung noch vor den Wahlen?

■ Jelzin will die russischen Machtstrukturen ummodeln, um das alte Parlament zu entmachten, und verspricht einen „heißen Herbst“ / Die Presse steht hinter ihm

Moskau (taz) – „Hauptziel des Erscheinens von Boris Jelzin im Haus der Russischen Presse war es, Freunden und Feinden zu zeigen, daß das vom Präsidenten über sich selbst verhängte Time-out zu Ende ist.“ So kommentierte gestern die Moskauer Zeitung Nesawisimaja Gaseta den lauten Auftritt Boris Jelzins am Donnerstag abend bei einer Konferenz der Vertreter der Massenmedien im Moskauer „Haus der Presse“. Seit langem hatte sich Boris Nikolajewitsch nicht mehr so hart und heftig gegeben wie hier. „Es werden verschiedene Varianten eines entschlossenen Handelns von uns vorbereitet, und die werden wir durchführen“, grummelte er und wiederholte damit sein Versprechen eines „heißen Herbstes“ an die Russen.

Bei der Forderung nach baldigen Neuwahlen setzte er allerdings einen neuen Akzent: „Wenn das Parlament selbst diesen Entschluß nicht faßt, dann wird der Präsident ihn fassen.“ Trotz alledem blieb er die Erklärung schuldig, auf welche Weise. Statt dessen griff Jelzin zu militärischer Metaphorik: „Den August müssen wir nutzen, um die Artillerie in Stellung zu bringen, im September werden wir der Doppelherrschaft die entscheidende Schlacht liefern.“

Natürlich geizte der russische Präsident nicht mit Vorwürfen gegen den Obersten Sowjet. In dessen Reihen wittert er Kräfte, die zielstrebig nicht nur die Exekutive, sondern auch das Parlament selbst zu diskreditieren sowie den Präsidentenposten abzuschaffen suchen. Was den kürzlich von diesem Organ verabschiedeten hyperinflationären Haushalt betrifft, so verkündete Jelzin, er habe dem Kabinett befohlen, sich an den Rahmen des von ihm entworfenen Budgets zu halten. Die Außerkraftsetzung eines Teils der Privatisierungsgesetze bezeichnete er als „Schlag gegen das tragende Element der Reformen“. Gerade in dieser Frage, so meinte gestern die Komsomolskaja Prawda, habe das Parlament dem Willen des Volkes einen Fehdehandschuh entgegengeschleudert. Die Leute in Rußland hätten schließlich ein Privatleben im besten Sinne dieses Wortes, bemerkte der Präsident – „aber wir drohen ihnen die ganze Zeit mit einer Totalschlacht. Der Kampf ganz oben zwischen den konstitutionellen Mächten wird fast wie ein Bürgerkrieg aller gegen alle empfunden.“

Gestern ließ Jelzin auf dem Treffen der Russischen Föderation im karelischen Petrosawodsk durchblicken, daß er bereit sei, sich nicht mit den Häuptern der russischen Republiken, sondern auch mit den Vorsitzenden der insgesamt acht neuen nach Autonomie gierenden regionalen Zusammenschlüsse auf konkrete Ausführungsmechanismen zum russischen Föderationsvertrag zu einigen. Der nächste Schritt wäre logischerweise eine neue Verfassung. Eben damit gedenkt Jelzin offenbar noch vor den Neuwahlen das Parlament aus den Angeln zu heben. „Wenn ich Ihnen jetzt sagte, wie, dann könnte ich danach gleich die Hände in den Schoß legen“, vertraute der Präsident den versammelten Journalisten an. In ihnen hat Jelzin einen weiteren potentiellen Bündnispartner: Sie unterstützen sein Programm, fordern aber wirksame Maßnahmen gegen ihre gegenwärtige Gängelung von allen Seiten. Im Gegenfalle drohen sie – wenn denn die vielbeschworenen Neuwahlen stattfinden – zu streiken. Barbara Kerneck