Scharpings scharfer Schwenk

■ SPD-Chef will Grundgesetz für Blauhelme „mit allen Konsequenzen“ öffnen / In jedem Einzelfall sei SPD aber gegen „Kriegführung“

Bonn (taz) – SPD-Chef Rudolf Scharping schließt nicht mehr aus, das Grundgesetz für UNO-Kampfaufträge der Bundeswehr zu öffnen. Am Donnerstag abend plädierte er vor Journalisten in Bonn dafür, die Frage einer Grundgesetzänderung von dem Parteienstreit über die künftige Rolle der Bundeswehr zu trennen. Die SPD befürworte lediglich Blauhelm-Einsätze und lehne „Modelle der Kriegführung“ wie im Golfkrieg nach wie vor ab, betonte der SPD-Chef. Er äußerte gleichzeitig Zweifel, ob diese Einschränkung auch im Grundgesetz festgeschrieben werden sollte.

In der Verfassung müsse vorrangig die Frage geklärt werden, welche Mehrheiten im Bundestag erforderlich sein sollen, bevor die Bundesregierung deutsche Soldaten zu UNO-Einsätzen entsenden könne, sagte Scharping. Er plädierte dafür, sich an die Regelung anzulehnen, die das Grundgesetz heute schon für den Verteidigungsfall vorschreibt und die für dessen Feststellung eine Zweidrittelmehrheit verlangt.

Bisher hatte die SPD darauf bestanden, daß sich eine Grundgesetzänderung darauf zu beschränken habe, sogenannte friedenserhaltende Blauhelm-Einsätze zu ermöglichen. Kampfeinsätze sollten auch verfassungsrechtlich ausgeschlossen bleiben. Jetzt scheint sich Scharping einer Position anzuschließen, die schon von dem außenpolitischen Sprecher der SPD-Fraktion, Karsten Voigt, vertreten wurde. Vieles spreche dafür, meinte Voigt gestern gegenüber der taz, in das Grundgesetz keinen Katalog erlaubter UN-Einsätze aufzunehmen, sondern lediglich die erforderlichen Mehrheiten festzuschreiben. Gelte eine Zweidrittelmehrheit als Voraussetzung für die Entsendung der Bundeswehr, habe die Opposition immer noch in jedem Einzelfall die Möglichkeit, einen Einsatz zu „blockieren“.

Mit einer solchen Position nähert sich die SPD dem Vorschlag des FDP-Chefs Klaus Kinkel. Er hatte angeboten, Kampfeinsätze von einer Zweidrittelmehrheit abhängig zu machen. Friedenserhaltende Blauhelm-Missionen ohne Kampfauftrag sollten dagegen mit absoluter Mehrheit möglich sein. Demgegenüber will Scharping offenbar die Zweidrittelmehrheit für Bundeswehreinsätze aller Art festschreiben lassen. CDU/CSU-Fraktionsgeschäftsführer Jürgen Rüttgers nannte Scharpings Vorschläge gestern „Realitätsverweigerung“. Weder die deutsche Beteiligung an der Adria-Aktion noch die Teilnahme an der Awacs-Überwachung des Flugverbots über Bosnien wären mit seinen Vorschlägen möglich gewesen.

Zu „Blauhelm-Einsätzen mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben“, sage die SPD ja, erklärte Scharping gestern in der Bild-Zeitung, und hielt zu diesem Thema auch eine Urabstimmung unter den SPD-Mitgliedern möglich. Am Montag hatte das Präsidium Äußerungen des designierten Bundesgeschäftsführers Günter Verheugen gebilligt, wonach deutsche Blauhelm-Soldaten nicht nur das Recht zur Selbstverteidigung haben sollten, sondern auch die Möglichkeit, ihren „Auftrag zu verteidigen, wenn er behindert wird“. hmt

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