Die Krise nagt am Stolz der Revolution

Kubas Gesundheitssystem ist einmalig in Lateinamerika / Doch nun fehlt es fast an allem / Eine neue Epidemie breitet sich auf der Insel aus / Aber immerhin hält sich eine alte, Aids, in Grenzen  ■ Aus Havanna Thomas Schmid

Daß Fidel Castros Diktatur schlimmer ist, als die Pinochets je war, steht für Luis Prieto außer Zweifel. Am liebsten wäre dem 36jährigen Arzt, die Hardliner der exilkubanischen Gemeinde in Miami würden die Macht auf der Insel übernehmen und das Land wieder auf die Beine bringen. Auf die Revolution schimpft er wie ein Rohrspatz, und für den obersten Revolutionär, den Máximo Lider, hat er nur Spott übrig. Doch dem Gesundheitssystem, das das kommunistische Kuba aufgebaut hat, zollt auch er gewissen Respekt. In Lateinamerika weit verbreitete Krankheiten wie Diarrhöe, Amöbenruhr und Tuberkulose, die vor allem mangelnder Hygiene geschuldet sind, gibt es in Kuba kaum mehr, Gelbfieber, Malaria, und Cholera, die in der Dritten Welt jährlich Millionen von Menschen dahinraffen, gelten als ausgerottet, und in puncto Kindersterblichkeit, die auf dem Subkontinent traditionell hoch ist, kann sich Kuba durchaus mit der Ersten Welt messen. Kubanische Ärzte gelten als hochqualifiziert, in Havanna gibt es Institute für Hirnforschung und Gentechnologie und Spezialkliniken für Ophthalmologie und Organtransplantationen.

Doch nun greift die rasante wirtschaftliche Talfahrt, die Kuba durchmacht, auch die nobelste Errungenschaft der Revolution an. Nach dem Zusammenbruch des osteuropäischen Kommunismus ist es mit der großzügigen Subventionierung des kleinen tropischen Bruders zu Ende. Die Produktion des bei weitem wichtigsten Exportgutes der Insel, des Zuckers, ist innerhalb eines einzigen Jahres um 40 Prozent zurückgegangen. Eine Katastrophe bahnt sich an. Konnte die Insel 1989 noch für 8,139 Millionen Dollar Waren einführen, so wird das Importvolumen dieses Jahr gerade noch 1,719 Millionen betragen. Mit den Folgen dieser abstrakten Zahlen kämpfen die Kubaner nun tagtäglich. Auch im Gesundheitswesen.

Noch gibt es das in ganz Lateinamerika einmalige System medizinischer Versorgung, das aus einem dichten Netz von Familienärzten und Polykliniken besteht, das sich über die ganze Insel erstreckt. In Havanna kommt auf 600 Personen ein Familienarzt, der sich neben erster Versorgung um Gesundheitserziehung, Hygiene und Prophylaxe zu kümmern hat. Doch fehlt es bereits überall an Medikamenten, obwohl Kuba auf eine beachtliche eigene pharmazeutische Produktion verweisen kann. In den Krankenhäusern sind Antibiotika und Anästhetika, Analgetika und Ampullen inzwischen absolute Mangelware. „Operationen werden nur noch bei Krebs und in Notfällen durchgeführt“, sagt Luis Prieto, „in der Radiologie fehlt es an Filmmaterial, das früher aus der Sowjetunion, Bulgarien und der DDR angeliefert wurde. Die Bettlaken müssen die Patienten mittlerweile selbst mitbringen, und drei Säle mit 60 Betten wurden geschlossen, weil 160 Krankenschwestern, das ist fast die Hälfte, nicht mehr zur Arbeit kommen.“ Kein Wunder bei Monatslöhnen von 145 Pesos – dafür gibt es auf dem Schwarzmarkt gerade noch zwei Dollar, die sich im Touristenhotel jeder Kellner schon nach dem Frühstück des ersten Tages im Monat als Trinkgeld eingestrichen hat.

Weniger dramatisch ist die Lage im Hospital Cira Garcia, das ausschließlich Ausländern vorbehalten ist, und in den Spezialabteilungen einer ganzen Reihe weiterer Krankenhäuser, wo der Patient in Devisen bezahlen muß. Havanna ist längst Ziel eines lateinamerikanischen Medizintourismus geworden, für den das staatliche Institut Servimed in Anzeigen internationaler Magazine kräftig wirbt. Hier kuren ausländische Diplomaten und Manager zu günstigen Preisen. Hier werden auch Spitzenfunktionäre befreundeter Parteien und Guerilleros auf Staatskosten behandelt. Noch besser als im Cira Garcia sei die Versorgung nur im CIMEQ, behauptet Luis Prieto, im Krankenhaus der kubanischen Nomenklatura, dessen Ärzte alle der Seguridad, der kubanischen Stasi, angehörten und nicht dem Gesundheits-, sondern direkt dem Innenministerium unterstünden.

Wie effizient das kubanische Gesundheitssystem ist, zeigte sich, als in diesem Frühling eine optische Neuritis epidemische Ausmaße annahm. Die seltene Krankheit, die zu einer Verschlechterung der Sehkraft und zur Farbenblindheit führt, tauchte in Kuba zum erstenmal Ende 1991 in der Tabakregion Pinar del Rio im Westen des Landes auf. Im Frühling dieses Jahres wies die Kurve der Neuerkrankungen in sämtlichen Gegenden des Landes immer steiler nach oben. Die Gerüchteküche brodelte. Spekulationen über eine völlig neue Krankheit machten die Runde, und der Vizegesundheitsminister Jorge Anteno witterte sogar eine Attacke aus dem Land des Bösen. „Wir können nicht ausschließen“, sagte er Anfang Mai auf der 46. Konferenz der Weltgesundheitsorganisation in Genf, „daß die Hand des Feindes die Krankheit ausgelöst hat.“ Schließlich setzte sich aber die These durch, daß das seltsame Syndrom, das nun immer häufiger auch die in der Regel weniger gefährliche Form einer peripheren Neuritis annahm, die zu Gliederschmerzen, Ermüdungserscheinungen und motorischen Störungen führt, einem Mangel an Vitaminen, vor allem der Gruppe B, geschuldet ist. Da sich unter den Patienten überdurchschnittlich viele Raucher befinden, wird nun auch Tabak als zusätzlicher Risikofaktor genannt. Auch mag der übermäßige Genuß von selbstgebrautem Zuckerrohrschnaps eine Rolle spielen.

Unterernährung nach 34 Jahren Revolution. Nein, das konnte die alleinherrschende Partei, das konnte die Führung des Landes zunächst einfach nicht zugeben. Dies vermutet jedenfalls die Psychologin Marisa Hernández, die an einem epidemiologischen Institut in Havanna arbeitet. Deshalb, so argwöhnt sie, mußte Hector Terry im Frühling den Hut nehmen. Der Vizeminister für Hygiene und Epidemiologie hatte bereits im Februar gewarnt, daß das Defizit an Vitaminen auf der Insel zu Epidemien führen könne. Nachdem dann aber die These des Vitamin-Defizits sich in den obersten Rängen des Systems einmal durchgesetzt hatte, wurde gehandelt – mit kubanischer Effizienz.

Noch rätselte man zwar, weshalb Länder mit deutlich schlechterer Ernährungslage als Kuba wie etwa Nicaragua, El Salvador, Guatemala, Bolivien oder Peru von der Neuritis verschont blieben. Doch prophylaktisch wurde jeder Kubanerin und jedem Kubaner, gleich welchen Alters, eine Vitamin-Dosis verabreicht. Selbstredend gratis. 10,8 Millionen Kapseln, und das nun bereits zum dritten Mal, zu jedem Monatsbeginn. Das ist schon rein organisatorisch eine Leistung, die wohl kein anderer lateinamerikanischer Staat bringen würde.

Die staatliche Organisierung und Erfassung der Gesellschaft über ein System von Familienärzten und Komitees zur Verteidigung der Revolution machte es möglich. Die Therapie und die generelle Prophylaxe ließ sich Kuba, das bei der Bekämpfung der Epidemie inzwischen um internationale Unterstützung gebeten hat, immerhin 40 Millionen Dollar kosten. 80 Prozent der an optischer Neuritis Erkrankten hätten die volle Sehkraft wieder erlangt, so heißt es offiziell aus dem Gesundheitsministerium, bei den restlichen 20 Prozent habe die Therapie nur partielle Erfolge gezeitigt, erblindet sei keiner.

Anfang Juni wurden täglich bis an die tausend Neuerkrankungen gemeldet. Mitte Juni waren bereits 45.330 Personen registriert, die an Neuritis litten. Seither gibt es keine offiziellen Zahlen mehr. Mag sein, daß das Regime die Realität verschleiert, wie Marisa Hernández mutmaßt, die davon ausgeht, daß weiterhin täglich an die tausend neue Fälle um Behandlung nachsuchen. Doch selbst Ärzte wie Luis Prieto, die dem Regime alles andere als freundlich gesonnen sind, gehen davon aus, daß Fidel Castro nicht log, als er Ende Juli offiziell verkündete, die Epidemie sei weitgehend unter Kontrolle. Und auch Prietos Frau Susana, die Familienärztin in einem der ärmsten Viertel von Havanna ist und mit der Krankheit täglich zu tun hat, pflichtet ihm bei. Welche Zahlen öffentlich gemacht werden und welche Staatsgeheimnis bleiben, folge völlig undurchsichtigen Kriterien, meint sie. Daß keine Zahlen mehr genannt würden, könne mit dem Urlaub im Ministerium zusammenhängen oder irgendeinem Defekt in der bürokratischen Maschinerie geschuldet sein.

Bei einer andern Epidemie jedenfalls liegen die Zahlen offen. Mercedes Torres, die im Zentrum für Gesundheitserziehung arbeitet, hat sie schnell zur Hand: Seit 1986 wurden auf Kuba 932 Träger des Aids-Virus registriert, 191 von ihnen sind bereits erkrankt und 115 gestorben. 71 Prozent der Betroffenen sind Männer, 29 Prozent sind Frauen; 45 Prozent sind schwul oder bisexuell, 55 Prozent sind Heteros. Die Situation in Kuba ist deutlich weniger dramatisch als auf den umliegenden Karibikinseln. Das ist zum einen sicher der immer noch relativ guten medizinischen Versorgung zu verdanken, zum andern ist die intravenöse Injektion von Drogen ein so gut wie unbekanntes Phänomen. Vermutlich hat auch die Zwangsinternierung der Infizierten eine schnellere Ausbreitung der Seuche verhindert.

Wer in Havanna in ein Krankenhaus eingeliefert wird, in einem internationalen Hotel arbeitet oder schwanger ist, wird automatisch einem Aids-Test unterzogen. Wer „positiv“ ist, wird bis heute umgehend ins Sanatorium Santiago de las Vegas an der Peripherie im äußersten Süden der Hauptstadt eingeliefert. Das Virus tauchte in Kuba zum erstenmal 1986 auf, eingeschleppt – offenbar je nach politischer Sichtweise – von einem Geschäftsmann aus den USA oder von kubanischen Soldaten, die in Angola im Einsatz waren. Jedenfalls wurden die ersten Infizierten im Sanatorium zunächst regelrecht wie Gefangene gehalten und bewacht, was damals international Empörung auslöste. Doch schon nach wenigen Monaten, so berichtet Liana Rodriguez, die fünf Jahre lang, bis zu diesem Frühling, im Sanatorium als Psychologin gearbeitet hat, hätten die Virusträger in Begleitung von Fachpersonal übers Wochenende in die Stadt fahren dürfen. Seit 1989 dürften die Infizierten sogar allein ins Wochenende fahren, sofern ihnen eine Kommission aus Ärzten und Psychologen „Fähigkeit zu selbstverantwortlichem Verhalten“ bescheinigt. Das sei inzwischen bei den meisten der Fall.

An die 300 Aids-Infizierte und -Erkrankte leben im Sanatorium von Santiago de las Vegas, das wie die übrigen neun Aids-Sanatorien, die auf der Insel eingerichtet wurden, nur mit Sondergenehmigung betreten werden darf. „Dort leben sie in hübschen Häuschen, in freier Natur, als Homo- oder Hetero- Pärchen oder allein“, erzählt Liana Rodriguez, und tatsächlich zeugen die Fotos, die sie vorlegt, eher von einem Luftkurort als von einer geschlossenen Anstalt. Alle beziehen ihr letztes Gehalt weiter und erhalten aus Rücksicht auf die Infektion eine ausgesprochen vitaminreiche Nahrung, wie sie sich der Durchschnittsbürger von Havanna längst nicht mehr leisten kann. Auch die Versorgung mit AZT und Medikamenten aus kubanischer Produktion sei ausreichend und umsonst.

Die Psychologin hat in Santiago de las Vegas vor Jahren schon eine Gruppe von 15 Aids-Positiven gegründet, die inzwischen von einem ebenfalls infizierten Arzt geleitet wird und sich zur Aufgabe macht, in Schulen und an Arbeitsplätzen die Jugend von Havanna über Präventionsmaßnahmen aufzuklären. In ihrem Bulletin versucht die Initiative vor allem, Aids vom Ruch der Schande zu befreien. Ansonsten setzt sie auf Präservative, die überall und billig zu haben sind.

Auf die Erfolge im Kampf gegen Aids ist man in Kuba durchaus stolz. Doch geht die Angst um, daß die Ausländer einen Strich durch die Rechnung machen könnten. Als Folge des Massentourismus, für Kuba inzwischen eine der wichtigsten Devisenquellen, macht sich ein Sex-Tourismus breit, der in der Hauptstadt nicht mehr zu übersehen ist. Doch im Gesundheitsministerium teilt man solche Ängste nicht. Man erwäge zur Zeit sogar, so Mercedes Torres, die Zwangsinternierung von Virusträgern aufzugeben. Die Epidemie sei weitgehend unter Kontrolle, die breite Aufklärung der Bevölkerung habe ein Bewußtsein über die Gefahr geschaffen, und so könne man den Wünschen der Infizierten nach voller Reintegration in die Gesellschaft vielleicht schon bald entgegenkommen.

Viele aber, so weiß Liana Rodriguez, wollen das Sanatorium in Santiago de las Vegas gar nicht mehr verlassen. Sie hätten dort ihre Gemeinschaft, ihren Freund, ihre eigene Wohnung, ihre Medikamente und ihre Verpflegung. Weshalb sollten sie wieder in die Stadt ziehen und sich dort mit allen Problemen des Alltags herumschlagen, für eine Portion Reis Schlange stehen, das Zimmer mit zwei Geschwistern teilen, ganz abgesehen davon, daß viele sie eben doch wie Aussätzige behandeln würden? Luis Prieto, der Arzt, der auf Miami hofft, wittert wie immer Schlechtes, wenn etwas von oben kommt. „Paß auf“, sagt er, „die wollen nur einsparen.“