Hoffen auf die Gouverneurin

Gegner der Todesstrafe in den USA machen mobil, um das Leben von Gary Graham zu retten / Mit 17 Jahren verurteilt / Ein makabrer Wettlauf gegen die Zeit  ■ Aus Washington Andrea Böhm

Ann Richards ist ein politisches Unikum – und Gouverneurin des US-Bundesstaates Texas. Populär, schlagfertig und mit den Meriten einer moderaten Demokratin versehen, die es im Zentrum des amerikanischen Machismo bis an die Spitze gebracht hat. Kurzum: ein Aushängeschild für die Frauenbewegung. Zu ihren Amtsgeschäften gehören auch Entscheidungen über Leben und Tod. Wenn nächstes Jahr ihre erste Amtszeit ausläuft, werden in Texas mehr Menschen hingerichtet worden sein als unter jedem anderen Gouverneur in den USA. Wenn nicht ein kleines Wunder geschieht, wird auf dieser Rekordliste morgen der Name Gary Graham eingetragen.

Doch anders als bei den meisten Exekutionen wird diese Hinrichtung nicht leise und unbemerkt vonstatten gehen. Um das Leben des 29jährigen Schwarzen zu retten, haben Organisationen zur Abschaffung der Todesstrafe mobil gemacht. Daß der Name Gary Graham noch einmal zum Fanal für eine schon fast zur Bedeutungslosigkeit verurteilte Bewegung geworden ist, hat einen simplen Grund: Sechs Augenzeugen sind bereit auszusagen, daß Gary Graham des Mordes unschuldig ist, für den er zum Tode verurteilt wurde. Es will ihnen nur keiner zuhören.

Graham wurde am 20. Mai 1981 in Houston, Texas, wegen mehrerer Raubüberfälle verhaftet, über die er umgehend ein Geständnis ablegte. Gleichzeitig legte die Polizei sein Foto drei Zeugen vor, die an einem Abend zuvor auf einem Parkplatz beobachtet hatten, wie ein Weißer von einem Schwarzen erschossen worden war. Zwei der Augenzeugen konnten Graham nicht als Täter identifizieren, lediglich eine Zeugin glaubte, den Mörder wiedererkannt zu haben. Graham hingegen konnte fünf Alibizeugen aufbieten sowie den ballistischen Untersuchungsbericht der Polizei, wonach die tödliche Kugel nicht aus seiner Waffe stammte. Doch wie so viele Insassen des Todestraktes konnte sich auch Graham keinen eigenen Anwalt leisten. Ihm wurde ein Pflichtverteidiger zugeteilt, der sich weder um Alibizeugen noch Erkenntnisse aus den Polizeilabors kümmerte. Im Oktober 1981 verurteilte ein Houstoner Strafgericht Graham zum Tode. Zur Tatzeit des Mordes, den er wahrscheinlich nicht begangen hat, war er 17. Die Todesstrafe gegen Minderjährige ist in Texas und 23 anderen Bundesstaaten gesetzlich zulässig.

Gary Graham hat inzwischen über ein Drittel seines Lebens im Todestrakt verbracht. Er hat einen Berufungsmarathon und mehrere Hinrichtungstermine hinter sich. Seine neuen Anwälte, finanziert von Bürgerrechtsgruppen, können inzwischen sechs Augenzeugen aus jener Mainacht 1981 aufbieten, die eidesstattlich aussagen würden, daß Graham nicht der Täter ist. Ein weiterer Zeuge tauchte im April diesen Jahres auf, nachdem er von der drohenden Hinrichtung aus der Zeitung erfahren hatte. Er behauptet zu wissen, wer und wo der wahre Mörder ist.

An diesem Punkt finden sich Legislative und Judikative zu einem zynischen Katz-und-Maus- Spiel zusammen: Laut Gesetz kann ein Verurteilter in Texas neues Beweismaterial nur innerhalb von 30 Tagen nach Prozeßende einem texanischen Berufungsgericht vorlegen. Deshalb hat sich bislang jede Instanz im Bundesstaat geweigert, die Zeugenaussagen zur Kenntnis zu nehmen. Die Bundesgerichte wiederum sind nicht mehr zuständig, seit der Oberste Gerichtshof in einem Präzedenzfall im Januar 1993 entschied, daß die mögliche Unschuld eines Verurteilten kein Argument von verfassungsrechtlichem Rang ist, und alle potentiell Unschuldigen an die allerletzte Instanz verwies: die Gouverneure und deren Gnadenrecht. Womit man wieder bei Ann Richards wäre.

Um das Leben von Gary Graham hat unterdessen ein makabrer Wettlauf begonnen: Gegen die Anhörung vor dem texanischen Begnadigungsausschuß, der der Gouverneurin eine Empfehlung aussprechen soll, hat der Generalstaatsanwalt von Texas Widerspruch eingelegt, über den nun gerichtlich entschieden werden muß – voraussichtlich erst nach dem 17. August, Grahams Exekutionsdatum. Samstag nacht fanden Grahams Anwälte schließlich einen Richter, der die grausame Absurdität dieser Terminplanung einsah und einen Hinrichtungsaufschub gewährte. Dagegen hat die Staatsanwaltschaft erneut Widerspruch eingelegt – mit guten Chancen, daß ein Gericht im Lauf des heutigen Tages den Hinrichtungstermin wieder einsetzt. Dann kann Gary Graham nur noch auf die Gouverneurin hoffen.