Das macht die Kultur ein bißchen lustiger

Vladimir Sorokin über den postmodernen Putsch, Soz-Art und die Irrelevanz des guten Geschmacks  ■ Von Johanna Blechen

taz: Sie sind 1955 geboren und haben in Ihrem bisherigen Leben mindestens drei große politische Umbrüche in ihrem Heimatland erlebt: den Sturz Chruschtschows und die nachfolgende Breschnew- Ära, die unter Gorbatschow auch als „Periode der Stagnation“ bezeichnet wurde; dann 20 Jahre später den Beginn der „Perestroika“ und in dieser Woche vor genau zwei Jahren, am 19. August, einen politischen und gesellschaftlichen Umbruch, der eingeleitet wurde von dem gescheiterten Putsch gegen Gorbatschow und mit der Auflösung der Sowjetunion endete. Als wir uns schon einmal im August letzten Jahres miteinander unterhielten – genau ein Jahr nach dem Moskau-Putsch – sprachen Sie von einem „postmodernen Putsch“. Können sie erläutern, was Sie damit meinen?

Vladimir Sorokin: Während des Putsches war ich in Moskau. Am Abend zuvor hatte ich noch mit einem Freund, er ist Kunstmaler, getrunken und über die siebziger Jahre gesprochen. Unsere Stimmung läßt sich als Heimweh oder Sehnsucht nach der Breschnew- Zeit beschreiben. Als mich am Morgen meine Frau weckte und von Panzern sprach, wußte ich zuerst nicht, ob ich mich in einem schweren Traum befinde. Wir wohnen am Stadtrand von Moskau, und man konnte aus dem Fenster Panzer sehen, die vor der gegenüberliegenden Bank aufgefahren waren. Meine Frau schaltete den Fernseher ein. Als ich die Stimmen der Ansager hörte – sie sprachen wie in der Breschnew- Zeit –, war mein Kater von der Sauferei weg. Alle Elemente des Putsches erinnerten an die Breschnew-Ära. Seine Inhalte waren sozusagen herausgenommen. Wie fast jede postmoderne Erscheinung hatte er einen rein faktischen Charakter. Das Charakteristische an der Postmoderne ist der Übergang der Struktur in ein Faktum. Ich verstehe darunter Simulationen, Simulacren, Merkmale, die an der Oberfläche bleiben.

Eine Episode als Beispiel: Eine größere Ansammlung aufgeregter Menschen versuchte, ein Denkmal zu stürzen. In diesem Moment erschien ein Vertreter Jelzins. Er warnte, daß der Kopf des Denkmals beim Herunterfallen den Asphalt beschädigen könnte und die darunterliegenden Telefonkabel. Deshalb bat er die Menschen, auf die Techniker und die Spezialisten zu warten. Stellen Sie sich das vor! Ein revolutionärer Umsturz, bei dem die Leute zwei Stunden auf die Techniker und Spezialisten warten! Deshalb spreche ich von einem inhaltsleeren Putsch. Es gab in diesem einen Jahr drei politische Wechsel, aber die russische Mentalität – nein, die Mentalität Rußlands – hat sich in diesem Jahr nicht verändert. Damit bin ich eigentlich sehr zufrieden. Bei der ganzen Toleranz und Geduld gegenüber dem staatlichen Regime habe ich begriffen, daß es in Rußland keinen Bürgerkrieg geben wird. In den 70 Jahren seit der Revolution sind die Menschen – wie soll ich sagen – „erfroren“; das Volk hat keine Energie mehr für solche Massenaktivitäten.

Sie waren zwischenzeitlich wieder in Moskau. Ist der Optimismus über die Perspektiven Rußlands, den Sie noch vor einem Jahr im August hatten, durch die Krise des Jelzin-Regimes erschüttert worden?

Ich glaube nicht, daß das Jelzin- Regime in der Krise ist. Ich glaube, die Entwicklung war so vorprogrammiert. An die Macht konnten nur die ehemaligen Kommunisten kommen, die zu Demokraten geworden sind. Und um Rußland aus der Krise herauszuführen, ist dies der wahrscheinlichste und natürlichste Weg. Deswegen hege ich optimistische Gefühle, was die Perspektive Rußlands betrifft. Interessant ist, daß in den intellektuellen Kreisen, in denen ich mich bewege, diese optimistischen Erwartungen von allen geteilt werden. Ich glaube, daß die Pessimisten der Generation der sechziger Jahre angehören, also zu der Generation gehören, die mit der damaligen Katastrophenstimmung groß geworden ist. Für diese Leute ist das Schlimmste die Ersetzung der Ideologie durch die Marktwirtschaft. Ich fühle mich persönlich nicht betroffen. Ich bin ein apolitischer Mensch und beobachte die ganze Sache ästhetisch. Ich habe das Gefühl – und das Gefühl habe ich seit langem –, daß dieser Zusammenbruch nur die Ränder der Sowjetuion betreffen wird, dort, wo die Leute noch Energie haben. In Zentralrußland ist keine revolutionäre Energie vorhanden, was mich eigentlich freut.

Fühlen sie sich durch die Probleme der nicht-russischen Teile der ehemaligen Sowjetunion in irgendeiner Weise betroffen?

Alle Konflikte, die jetzt in den Randrepubliken ausgetragen werden, haben die Merkmale nationaler und religiöser Konflikte. Dagegen sehe ich nicht, daß es in Rußland zu vergleichbaren Auseinandersetzungen kommen könnte.

In den Klappentexten Ihrer Bücher, die bisher nur im Westen veröffentlicht werden konnten, werden Sie der Gruppe der „Moskauer Konzeptualisten“ zugeordnet. Welche Ziele und welche formalen und inhaltlichen Merkmale verbinden diese Gruppe aus Ihrer Sicht?

Die Gruppe existiert jetzt nicht mehr, so wie es jetzt auch diesen Moskauer „Underground“ nicht mehr gibt. Aber das Ziel der Gruppe ist für mich maßgeblich geblieben. Ich nenne mich selbst einen Quasi-Schriftsteller. Es ist mir wichtig, keinen eigenen Stil zu haben. Dank dessen kann ich mit allen stilistischen Strömungen experimentieren. Unser Ziel als Gruppe war die Kunst an sich. Unser Prinzip war die Ästhetisierung, das heißt, die Ästhetisierung der sowjetischen Welt, der Kultur, der Literatur. Es ging uns dabei um eine Haltung der Distanz, aber wir haben immer streng zwischen den Begriffen der Ethik und der Ästhetik getrennt. Es war uns immer sehr wichtig, ethisch im Rahmen des Normalen zu bleiben – aber ästhetisch konnten wir uns alles leisten. Diese Haltung wurde praktiziert von rechts und von links. Den Kommunisten gefiel das natürlich nicht. Sie versuchten, uns unter Druck zu setzen. Auch die Dissidenten übten Druck aus. Wir waren unpolitisch gestimmt; wir haben über das gescherzt, was diese Leute ernst nahmen. Wir nannten unsere literarische Richtung „Soz-Art“. Es war praktisch „Pop-Art“ mit sowjetischen Stoffen und Inhalten. Das war unsere Form des Ästhetizismus. Daß ich bis jetzt für den sowjetischen Film schwärme und daß ich mir – wie soll ich sagen – davon eine Verwundung zufügen lasse, das gefällt mir. Ich schwärme eigentlich für den sowjetischen Realismus.

Wie bauen sich ihre Textgewebe auf? Können Sie einen kleinen Einblick in Ihre Werkstatt geben und etwas über Ihre Arbeitsweise verraten?

Der literarische Prozeß hatte für mich immer einen psychotherapeutischen Charakter. Er ermöglicht mir für ein paar Augenblicke zu vergessen, wer ich eigentlich bin und wo ich mich befinde. Ich habe von Kindheit an diese Welt – meine Umwelt, diese Welt überhaupt – als schwer empfunden. Literatur erfüllt deshalb für mich bis jetzt die Rolle eines Tranquilizers. Das ist alles, was ich über „meine Werkstatt“ erzählen kann. Als ich Anfang der achtziger Jahre zu schreiben begann, hätte ich nie gedacht, daß die Texte einmal veröffentlicht werden könnten. Das war für mich selbst eine Überraschung.

Sie treiben nicht nur mit Entsetzen Scherz, sie verletzen auch den „guten Geschmack“ und verdrehen den gewohnten Wortsinn. Ihre Erzählung „Ein Monat in Dachau“ wurde in einer der ersten Rezensionen als „Phantasmagorie des Ekels“ bezeichnet. Mittlerweile haben Sie auch einen großen Roman geschrieben. Bedeutet das: zurück zu den Klassikern, zu den großen Modellen russischer Erzählkunst?

An dem großen Roman habe ich von 1985 bis 1989 geschrieben. Der Roman heißt: „Roman“. Roman ist der Name der Hauptfigur. Es ist ein Roman über eine große Liebe. Die sowjetischen Realien kommen darin kaum vor. Der Roman ist in der literarischen Sprache des 19. Jahrhunderts geschrieben, in der Sprache Turgenjews. Es ist eine ernsthafte Bemühung um die klassische Tradition. Das heißt überhaupt nicht, daß ich meinen Stil gefunden habe. Das ist eine der Berührungen. Wenn nun jemand darüber redet, daß ich den „guten Geschmack“ verletze: Das ist nicht mein Problem, sondern das des Lesers.

Ich erinnere daran, daß Lew Tolstoi, nachdem er „Anna Karenina“ geschrieben hatte, ein Päckchen bekam. Eine Dame schickte ihm einen Brief mit einem Stück Schnur. In dem Brief stand, daß er sich nach diesem die Ehre der Frau beleidigenden Werk eigentlich aufhängen müßte.

Im 20. Jahrhundert hat es nach meiner Ansicht keinen Sinn, über „guten Geschmack“ zu diskutieren. Niemand kann mehr verbindlich sagen, was guter Geschmack ist. Die Hauptsache ist für mich – und ich berufe mich dabei auf Daniil Charms – die Reinheit der inneren Struktur eines Textes. Das gilt für verschiedene Gattungen und verschiedene Gebiete, nicht nur für die Literatur. Ein Beispiel für die Reinheit der Struktur ist für mich ein Film aus der Stalin-Zeit, der Film „Die Kosaken von Kuran“. Er ist im ästhetischen Aufbau reiner und besser als die Filme von Tarkowski. Man kann natürlich darüber reden, daß die Filme von Tarkowski geistig viel gehaltvoller sind, aber ich sehe ihre ästhetischen Schwächen.

Was die „unanständigen“ Redewendungen in meinen Texten betrifft: Sie sind Bestandteil der russischen Sprache, sie gehören zur russischen Kultur. Das macht die Kultur ein bißchen lustiger.

In diesem Herbst erscheint im Haffmanns Verlag Sorokins neuer Roman „Roman“. Dort erschienen bisher die Romane „Die Schlange“ (1990, aus dem Russischen von Peter Urban, 272 S., 34 DM) und „Marinas dreißigste Liebe“ (1991, übersetzt von Thomas Wiedling, 400 S., 39 DM); ein Band mit gesammelten Erzählungen „Der Obelisk“ (1992, übersetzt von Gabriele Leupold, 224 S., 36 DM) und die Erzählung „Ein Monat in Dachau“ (1992, übersetzt von Peter Urban, 29 DM).

Das Gespräch wird vollständig im nächsten Heft der Zeitschrift „Ästhetik und Kommunikation“ (Klartext-Verlag, Dickmannstr. 2-4, 45 143 Essen) erscheinen.