Schriften zu Zeitschriften
: Abseitsfalle umspielen

■ Die „Neue Rundschau“ über die Misere der deutschen Gegenwartsliteratur

Daß der große deutsche Zeitroman wieder einmal nicht erschienen ist, pfeifen jeweils im Herbst die Spatzen des Literaturbetriebs von den Dächern, manche dabei liebevoll einen älteren Kollegen mit einschlägigem Akzent parodierend. Damit man nicht neuerlich vergebens auf ein literarisches Ereignis wartet, hat die Neue Rundschau schon vor dem Bücherherbst ein Themenheft vorgelegt, das den Weg der deutschen Literatur ins Abseits rekonstruiert. Um was es geht, sagt unmißverständlich Mitherausgeber Uwe Wittstock: „Die jüngere deutsche Literatur hat ihr Publikum verloren. Man kann das bedauern oder so gut es geht bagatellisieren – doch bezweifeln kann man es nicht.“ Wie sie ins Abseits geraten ist und was das bedeuten mag, dafür haben die Autoren des Heftes einige hilfreiche Einsichten parat. Gert Ueding beispielsweise liefert historische Nachweise für die in Deutschland bevorzugte harte Scheidung zwischen ernster und unterhaltender Kunst, die nicht unverantwortlich ist für das Dilemma der hiesigen Prosa. Über die Rede vom Ende der Kunst bestand lange schon Übereinkunft, bevor sie sich in Hegels Ästhetik manifestierte. Das Lamento über das Ausbleiben des literarischen Ereignisses ist also philosophisch ein alter Hut.

Die als Abseits umschriebene Krise ist eine betriebsinterne Angelegenheit der deutschen Literatur und hat wenig zu tun mit der scheinbar schwindenden Halbwertzeit der Kulturtechnik Lesen. Es wäre also angezeigt, sich rasch von kulturkonservativen Verfallstheorien zu lösen. Man rettet die Literatur nicht, indem man fortwährend das „Ende des Buchzeitalters“ beschwört, wovon auch angesichts der Erfolge ausländischer Literatur hierzulande nicht die Rede sein kann. Uwe Wittstock vermag der Krise der deutschen Gegenwartsliteratur durchaus etwas abzugewinnen. Von einem vorgeschriebenen literarischen Kanon hat sich das Publikum weitestgehend emanzipiert. „Da sich niemand mehr zu irgendeiner ungeliebten Lektüre genötigt fühlen kann, wird zumindest im Bereich der Literatur die individuelle Freiheit respektiert. Unter diesem Aspekt betrachtet, betreibt die Gegenwart nicht die Zerstörung, sondern die Ziele der bürgerlichen Zivilisation.“ Ganz so pathetisch muß man es denn auch wieder nicht wenden, aber wohl selten war der Literaturbetrieb so frei von normativem Regelwerk. Leser findet nur noch, was Spaß macht. „Jeder Art von Literatur ist erlaubt, außer der langweiligen.“

Der Leser scheint erwachsen geworden, nicht aber die Autoren und Kritiker. Bodo Kirchhoff wittert eine Adoleszenzkrise hinter den zu engen Kurzpaßspielen der ungleichen Geschwister. „Eine ganze Generation hat ihr Erwachsenwerden um zehn, fünfzehn Jahre verschleppt. (...) Da es keine Kritiker gab, die sich selbst ernst genug genommen haben, um die entsprechenden repräsentativen Positionen im Literaturbetrieb zu besetzen, konnten sie auch die Schriftsteller ihrer Generation nicht als repräsentativ durchsetzen. (...) Die Kritiker der 68er Generation haben bis heute keinen einzigen deutschsprachigen Autor durchgesetzt. Sie haben sich allenfalls selbst in ihren Redaktionen durchgesetzt.“

Ganz ungewöhnlich unangestrengt verhandelt die Neue Rundschau die Krise der deutschen Literatur, ohne gleich ihr Ende zu antizipieren. Unprätentiöse Einblicke in ihr schriftstellerisches Tun geben Sten Nadolny und Klaus Modick, und Bernd Eilert feiert – vom Krisengerede gänzlich unangefochten – Martin Mosebachs „Westend“.

Das Abseits ist übrigens durchaus sportlich zu verstehen, ein Regelverstoß, der nicht selten durch den Fintenreichtum der Gegner provoziert wird. Wie man einer Abseitsfalle entgeht, hängt von der strategischen Phantasie der Spieler ab. Das Spiel jedenfalls geht weiter und bringt bisweilen bemerkenswerte Varianten zum Vorschein. Harry Nutt

Neue Rundschau. Heft 3, 1993. Herausgegeben von Günther Busch und Uwe Wittstock, S. Fischer Verlag, 176 Seiten, 15 DM