Die Fortsetzung der Evolution

Die Grenzen zwischen Biologie und Informatik werden immer weiter abgebaut  ■ Von Ute Bertrand

Gäbe es eine Hitliste wissenschaftlicher Modewörter, stünden Vokabeln aus der Biologie ganz oben. Von Evolution, Vererbung, und Neuronen ist die Rede. Die Assoziationen, die diese Begriffe unter InformatikerInnen auslösen, haben mit Lebewesen allerdings nichts gemein: Ein Neuron läßt sie an schnelle Rechner und lernfähige Software denken. Stammbäume dokumentieren Verwandtschaftsverhältnisse zwischen programmierbaren „Objekten“, Vererbung und Evolution finden im Computer statt.

Das Verwirrspiel mit Worten hat Methode. „Molekulare Bioelektronik“ nennen WissenschaftlerInnen die neue Disziplin. Sie wollen das Zusammenwirken von Informatik und Biologie, von Computern und Genen vorantreiben. Und das will auch die Bundesregierung. Sie unterstützt Forschungsprojekte zur Bioinformatik mit mehreren Förderprogrammen. Allein für das sogenannte „Strategiekonzept Molekulare Bioinformatik“ stellt das Bundesforschungsministerium bis 1997 fünfzig Millionen Mark bereit. Auch in der Gesellschaft für Informatik (GI), einem wissenschaftlichen Verein mit über 20.000 Mitgliedern, stößt das neue Gebiet mit der Vorsilbe „Bio“ auf Interesse. Seit 1992 existiert eine GI-Fachgruppe zu „Informatik in den Biowissenschaften“.

„Die Natur“, so schwärmte der damalige Forschungsminister Riesenhuber bei der Vorstellung des Strategiepapiers „Molekulare Bioinformatik“ im Frühjahr 1992, „ist der größte Lehrmeister für eine raffinierte, auf kleinstem Raum ablaufende Informationsverarbeitung.“ Diese Idee eint auch WissenschaftlerInnen verschiedener Disziplinen: Natur dient ihnen als Vorbild für Technik; und es sind Techniken, die Deutungsmuster für ungeklärte Vorgänge in der Natur liefern. Computer, so die aus der Künstliche-Intelligenz-Forschung altbekannte Behauptung, können prinzipiell alles, was Menschen können: lernen, entscheiden, Ideen haben, assoziieren und so fort; Menschen werden im Gegenzug als informationsverarbeitende Systeme interpretiert, gesteuert von Nerven, Immun-, Hormonsystemen und genetischen Codes. Spricht man aber erst von Informationssystemen, liegt es nahe, selbst welche zu erfinden.

Als eines der heute schon vorzeigbaren Projekte in der Bioinformatik zählt Software zum rechnergestützten Protein-Design. Sie wurde an der Gesellschaft für Biotechnologische Forschung (GBF) in Braunschweig entwickelt. Neben der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung (GMD) in St. Augustin ist die GBF der Knotenpunkt in der Bioinformatik. Dort kann sich die BiotechnologIn, mit Spezial-Brille auf der Nase, Eiweiß-Modelle dreidimensional und in Farbe auf dem Computer-Bildschirm ansehen. Sinn der Simulation ist die Erfindung von Biomaterialien mit maßgeschneiderten Eigenschaften.

Eiweiße bestehen aus kompliziert gefalteten Aminosäure-Ketten. Tauscht man einzelne Aminosäuren aus, verändert sich das ganze Eiweißgerüst. Wie sich die Struktur und damit auch die Eigenschaften ändern, ist jedoch schwer vorstellbar. Deshalb ist es für die ForscherInnen eine Erleichterung, wenn sie sich das Ergebnis ihrer Manipulationen zunächst am Bildschirm anschauen können. Erst nach vielen Experimenten am Computer gehen sie in das Labor und versuchen, ihr Wunsch-Eiweiß zu synthetisieren. Am liebsten wäre es den ExpertInnen, wenn sie allein anhand der Abfolge von Aminosäuren voraussagen könnten, wie sich ein Molekül falten wird, Computer sollen dabei helfen, die unzähligen komplizierten Strukturen miteinander zu vergleichen, um so Gesetzmäßigkeiten zu entdecken.

Gelingt das Protein-Design, eröffnet sich den BiotechnikerInnen ein Eldorado neuer Eingriffsmöglichkeiten in das Leben von Pflanzen, Tieren und Menschen. Denn Eiweiße sind für alle Lebewesen existenziell wichtig – ob Hormone oder Antikörper, als Enzyme, die den Stoffwechsel beschleunigen, oder Transportproteine, die Sauerstoffmoleküle durch die Blutbahnen schleusen. Ihre natürlichen Aufgaben sind vielfältig, und die Manipulationsmöglichkeiten scheinen grenzenlos. Auf den Wunschlisten der Pharmaindustrie stehen Schmerzmittel und Impfstoffe ebenso wie Substanzen, die das Körperwachstum fördern, Blutgerinnsel auflösen oder während der Geburt entspannend auf den Gebärmuttermuskel wirken.

Ohne Computer wäre dieses „molecular modelling“ unmöglich. Ohnehin kommt heute kein einziges Genlabor ohne EDV aus. Aber es geht um mehr als um den bloßen Einsatz von Computern in der Biotechnologie – Bio- und Informationstechnologien verschmelzen.

Weil die Grenzen der Siliziumtechnologie herkömmlicher Mikrochips absehbar sind, experimentieren Bio-ElektronikerInnen mit organischen Substanzen. Ihre Vision: Computer, die die gleiche Leistung bringen wie unsere Erbanlagen. Schließlich gelänge es den Genen in jedem winzigen Zellkern sämtliche Informationen über ein komplettes Individuum zu speichern. Reihenweise testen BioElektronikerInnen nun Moleküle darauf, ob sie sich zu Drähten, Schaltern oder Speichern umfunktionieren lassen. Zwar funktioniert so gut wie nichts. Doch schon 1974 meldeten ForscherInnen von IBM in den USA Patente auf eine ganze Liste potentieller Bio-Bausteine für Computer an.

Anders als mit den unausgegorenen Basteleien an Bauteilen für Biocomputer läßt sich mit Biosensoren bereits Geld verdienen. Diese Meßfühler sind „Zwitter“ aus Elektronik und biologisch aktiven Substanzen. Die biologische Schicht reagiert mit ihrer Umgebung und registriert jede kleine Veränderung. Die gesammelten Daten werden über einen Signalwandler an einen angeschlossenen Computer weitergeleitet. Militärs entwickelten die ersten Biosensoren, um damit Nervengase aufzuspüren. Mittlerweile werden sie auch zivil genutzt, in der Medizin, Umwelt- und Lebensmitteltechnologie. Für mehr als 120 Stoffe gibt es bereits die passenden Biosensoren: für Blutzucker, Alkohol, Medikamente und Gase genauso wie für Fette und Kohlenhydrate. Als Entwicklungsziele für die medizinische Biosensorik nennt die BMFT-Dokumentation „Technologien des 21. Jahrhunderts“: „kostengünstige Biosensoren zum dezentralen Einsatz in Arztpraxen und zur Patientenselbstkontrolle“ sowie „langzeitimplantierbare Messgeber für künstliche Organe, vor allem für die künstliche Bauchspeicheldrüse“. Die „biokompatible“ Technik wird dem Menschen einverleibt. Sie verschwindet im Körper, ist nicht mehr lästig, angepaßt, ergonomisch – und jeder Kritik entzogen.

Natur erscheint im Zuge biologischer Materialforschung als riesiger Selbstbedienungs-Baumarkt. Das industrielle Leitbild von der Natur als Steinbruch, der ausgeräubert werden darf, hat ausgedient. In der vielbeschworenen Informationsgesellschaft sollen Informationsresourcen ausgebeutet werden: Natur als Bastelanleitung, die zwar gut, aber nicht optimal ist. So heißt es in der BMFT-Dokumentation: „Um zu lernen und zu verstehen, müssen wir uns nicht mehr auf die ,Betriebsspionage‘ bei Mutter Natur beschränken, die Gentechnologie gibt uns das Schreibzeug in die Hand, ,Fertigungsaufträge‘ zu formulieren.“

Damit ist die Biologie in die Regie naturwissenschaftlicher Baukasten-Disziplinen aufgenommen. Sie darf jetzt „Fertigungsaufträge“ entgegennehmen – auch aus der Informatik. Die Mythen von künstlicher Intelligenz und selbstgeschriebenen genetischen Programmen ergänzen sich. Der Auftrag heißt: Fortsetzung der Evolution mit technischen Mitteln.