Großserbien interessiert nicht mehr

Die Inflation steigt um ein Prozent stündlich, alle Bereiche des öffentlichen Lebens brechen zusammen / Die BürgerInnen der serbischen Hauptstadt haben Angst vor dem Winter  ■ Aus Belgrad Jasna Baštić

Die Angst, die Belgrad beherrscht, mutet seltsam an. Es ist eine große Unsicherheit, die fast alle Menschen in der serbischen Hauptstadt empfinden. Niemand weiß genau, woher die Unruhe kommt, zumindest aber scheint sicher, daß diesmal nicht die bösen Albaner, Slowenen, Kroaten oder Muslime dafür verantwortlich sind.

Die Reden über die serbische Nation und deren historische Träume haben an Bedeutung verloren, seit die serbischen Bürger mit einem Einkommen von 20 bis 30 Mark im Monat überleben müssen. In einem Land, in dem Rentner für 30 Tage ganze 5 Mark zur Verfügung haben, ist die Frage, ob Serbien Teile Kroatiens und Bosniens kontrolliert, nicht mehr Gegenstand großer Anteilnahme. „Großserbien“ tritt in den Hintergrund des Interesses, wenn selbst Universitätsprofessoren mitten in der Nacht in Müllcontainern nach Lebensnotwendigem suchen müssen.

Knapp über ein Jahr nach dem Beginn des UN-Embargos gegen „Rest-Jugoslawien“ brechen in den im gemeinsamen Staat verbliebenen Republiken Serbien und Montenegro alle Bereiche des öffentlichen Lebens zusammen. Auch Wirtschaftsexperten können nicht erklären, was genau eine stündliche Inflationssteigerung von einem Prozent für die Zukunft bedeutet. Die Frage, wie lange es so weitergehen kann, stellt in der international nicht anerkannten „Bundesrepublik Jugoslawien“ erst gar niemand. Ein Ende des durch Krieg und Mißwirtschaft verursachten wirtschaftlichen Chaos ist nicht absehbar. Metallgeld gab es auch im sozialistischen Jugoslawien schon lange nicht mehr. Und im „neuen“ Jugoslawien gibt es zwar ausreichend Papier für neue Scheine, aber es mangelt an Farbe. Die Noten ähneln sich daher so sehr, daß es schon für Einheimische schwierig ist, sie zu unterscheiden – für Ausländer ist es fast unmöglich.

Eine echtes Abenteuer ist, eine Stunde lang auf den Bus zu warten, um dann mit Hunderten von Leuten gemeinsam zu versuchen hineinzugelangen. Der öffentliche Nahverkehr der serbischen Hauptstadt wurde vor Monaten reduziert, weil das Benzin knapp geworden ist. Der Brennstoff soll für den Herbst und den Winter gespart werden. Auch deshalb sind die Straßen Belgrads nicht voll, wie man es aus Friedenszeiten gewohnt ist. In den Restaurants und Cafés der Metropole an der Sava herrscht gar gähnende Leere, denn die Belgrader haben für Vergnügungen keinen Pfennig mehr übrig. Immerhin können sich wohlhabende Bürger der Zwei-Millionen- Stadt fast alles auf dem Schwarzmarkt kaufen, wenn es in den offiziellen Läden und Märkten zu Engpässen kommt – für Deutsche Mark natürlich.

Geldhändler stehen an jeder Ecke, ihre Beziehungen zu den offiziellen Banken und einigen Politikern sind ein öffentliches Geheimnis. Milch zu kaufen ist nur am frühen Morgen möglich. In den Krankenhäusern ist die Situation katastrophal. Nicht nur die elementarsten Medikamente fehlen, sogar für das Essen der Patienten reichen die Mittel nicht mehr.

Der Mangel an Energie wird es im Winter unmöglich machen, die Häuser zu heizen. Schon jetzt hat der Stadtrat von Belgrad bekanntgegeben, daß lediglich Sporthallen und Notunterkünfte beheizt werden können. Dort sollen die Bürger Belgrads im Notfall immerhin noch einen warmen Platz finden. Auch in den Wohnungen der anderen serbischen Städte gibt es weder Öl noch Gas oder Elektrizität. Den Stadtbewohnern wurde deshalb von öffentlichen Stellen empfohlen, zu Freunden und Verwandten in die ländlichen Gebiete zu ziehen, wo es Holzöfen gibt. Weiter heißt es in der Empfehlung, die Serben sollten ihr Leben mit den Familienmitgliedern in wenigen Räumen organisieren.

Depression und Angst um Leben und Zukunft kann man in Belgrad fühlen. Nachdem vor zwei Monaten ein Abgeordneter im Parlamentsgebäude zusammengeschlagen wurde, dann Bürger der Stadt von der eigenen Polizei geprügelt und schließlich der Oppositionsführer Vuk Drašković und seine Ehefrau Danica inhaftiert wurden, beginnen die Menschen langsam darüber nachzudenken, warum ihr Leben so ist, wie es ist.

Der Kollaps der Wirtschaft, der Verlust jeder sozialen Sicherheit und demokratischen Politik in Serbien bedeuten Konjunktur für den Schwarzmarkt und die führenden Politiker. Das einzige, was in Serbien seit dem Machtantritt von Slobodan Milošević im Jahre 1989 entwickelt wurde, sind das Polizeiwesen und die Medien-Propaganda. Es gibt 70.000 modern ausgerüstete regimetreue Polizisten, die für den Straßenkampf ausgebildet sind. Für normale Standards wären für Serbien mit einer Bevölkerung von 10 Millionen 30.000 Polizisten ausreichend. Momentan kommen 7 Polizisten auf 1.000 Bürger – die höchste Zahl weltweit, die sogar chilenische Verhältnisse übertrifft.

Eine höhere Anzahl an Polizisten bedeutet aber keine höhere Effizienz oder gar besseren Schutz für die Bürger. In früherer Zeit sprachen die Sicherheitsorgane von 10 bis 15 Prozent ungeklärte Kriminalfälle, jetzt sind es 40 Prozent. Die serbische Regierung wendet 8 Prozent des Budgets für den Bedarf der ehemaligen „Jugoslawischen Volksarmee“ (JNA), die nunmehr „Jugoslawische Armee“ (JV) heißt, auf. Weitere 20 Prozent gehen an die Polizei. Die Entscheidung der Regierung, eine neue Polizeiakademie einzurichten, hat eine Diskussion über die Bedürfnisse der Polizei, der Armee und der Bevölkerung entfacht. Die Frage ist weniger, ob die rund 12 Millionen Neu-Jugoslawen die Armee, die Polizei und die Geheimdienste des alten 18-Millionen-Jugoslawiens benötigen, sondern wie man diese auf friedlichem Wege abschaffen könnte.

Die Armee erwartet angesichts des Krieges im benachbarten Bosnien-Herzegowina und den häufigen Aufständen im serbisch besetzten Kosovo immer mehr Geld vom maroden jugoslawischen Staat. Zur Zeit können die Streitkräfte nicht einmal mehr für die Auszahlung von Löhnen und Renten an ihre Angehörigen garantieren. Aus offiziellen Armeekreisen verlautet, daß der Verteidigungs- Etat nicht erhöht werden wird. Wenn das stimmt, so steht die jugoslawische Armee vor ihrem Zusammenbruch und kann somit die militärische Sicherheit der „Bundesrepublik Jugoslawien“ nicht mehr gewährleisten. Gleichzeitig bedeutet die immer weiter voranschreitende Militarisierung von Staat und Gesellschaft größere finanzielle Bedürfnisse der Armee, der Polizei und der verschiedenen aus kommunistischen Zeiten ererbten Organe für Staatssicherheit, was widerum immer weniger Geld für die Zivilbevölkerung übrigläßt. Viele der heutigen Polizisten in Serbien sind Männer, die mit Kriegserfahrungen aus Kroatien und Bosnien zurückgekehrt sind. Diese Polizei ist dem Regime verbunden, verdankt ihm alles. Sie garantiert Schutz und Sicherheit für Miloševićs Regime – auch gegen die eigene Bevölkerung. Im Volksmund werden die polizeilichen „Streitkräfte“ deshalb auch „Slobodans Privatarmee“ genannt. Zusammen mit TV Belgrad, besser bekannt als „TV Bastilia“, sind Armee und Polizei die bedeutendsten Machtinstrumente in den Händen des Regimes.

Zugleich geht die ehemalige „Volksarmee“ innerhalb kürzester Zeit durch einen gewaltigen Transformationsprozeß. „Ethnische Säuberungen“ und Berufsverbote sind Teile des neuen, postkommunistischen Programms der Soldaten und Offiziere. Trotz dieser Eingriffe könnte die jugoslawische Armee aufgrund ihrer anhaltenden politischen Undifferenziertheit von einem Moment auf den anderen ihre Loyalität wechseln. Die alte JNA ist mit einer Reihe von hochrangigen Offizieren aus Montenegro, einigen immer noch projugoslawisch orientierten Offizieren und anderen, die sich loyal zu den radikalen Nationalisten des Vojislav Šešelj verhalten, wenig vertrauenswürdig. Manche Belgrader betrachten daher die Polizei als eigentliche zukünftige serbische Armee.

Noch immer emigrieren zahlreiche Serben aus Kroatien und Bosnien nach Serbien, zumeist nach Belgrad und in die Vojvodina- Metropole Novi Sad. Für ihren „Beitrag zur serbischen Nation“ und ihre „Opferbereitschaft“ erhalten sie Jobs und Wohnungen. Langsam gewinnen die „Siedler“ an Einfluß – zur Verärgerung der einheimischen Bevölkerung. Eingesessene Belgrader meinen, die Serben, Kroaten und Muslime aus Bosnien-Herzegowina ähnelten sich untereinander in Mentalität und Kultur mehr als die Serben aus Bosnien oder Kroatien und die Kroaten und Serben aus Belgrad. Sie sprechen davon, daß ihre Stadt durch den Zuzug der „Dörfler“ immer mehr ihren urbanen Charakter verliert.

Viele meinen zu sehen, daß die „Weißsocken“, wie die Neubürger in Belgrad aufgrund ihrer immer gleichen Strumpffarbe genannt werden, mit ihrer dörflichen Kultur bereits gewonnen haben. Bekannte Intellektuelle wie der Ex- Bürgermeister der Stadt, Bogdan Bogdanović, interpretieren, daß das, was derweil in den bosnischen Städten geschehe, nicht nur Zerstörung, sondern der Tod der Städte ist. Die Städte mit ihrer komplizierten Struktur ängstigten und bedrohten Neuankömmlinge vom Lande mit einem Lebensstil, den diese nicht verstünden. Deshalb wollten die „Seljaci“, die Dörfler, die Städte zerstören. Tatsächlich sind die Spannungen zwischen Einheimischen und den Neuankömmlingen groß. Bogdan Bogdanović sagte in einem Interview mit der kroatischen Zeitung Slobodna Dalmacija, er sei sich nicht mehr sicher, ob nicht General Mladić, der Belgrad, den Intellektuellen, Oppositionellen und sogar der nationalen Opposition ständig droht, nicht irgendwann mit seinen Granaten vor Belgrad aufzieht.

Die Armut und der Mangel an Zukunftsperspektiven lassen derweil gerade viele gut ausgebildete Menschen daran denken, das Land zu verlassen. Ärzte, Techniker und junge Leute kehren Belgrad den Rücken, um nach Kanada, Australien oder Westeuropa zu gehen. Hinzu kommen viele Serben aus Kroatien oder Bosnien, für die es in ihrem vom Krieg zerstörten Heimatland keine Perspektive gibt. Unzufriedenheit und Frustration der Bürger Serbiens sind enorm, aber bisher kaum politisch artikuliert. Vielleicht werden die Bewohner Belgrads und ganz Serbiens anders reagieren, wenn sie zum ersten Mal wirklich fühlen, was Hunger und Zukunftslosigkeit bedeuten. Keiner weiß heute, in welche Richtung solch eine Explosion gehen könnte, aber wie das Regime auf einen Aufruhr regieren würde, ist absehbar: mit einer Diktatur.

Nach der Inhaftierung von Vuk Drašković vor zwei Monaten scheint es, als sei die Opposition zusammengebrochen. Beide Teile, der nationalistische Flügel und die Bürgerrechtler, versuchten zwar massenhafte Proteste mit der Forderung nach der Freilassung des Oppositionellen zu organisieren, aber die meisten Oppositionellen schienen gar nicht so sehr um die Inhaftierten besorgt. Die nationalistische Opposition nicht, weil Drašković gerade begonnen hatte, sich den Bürgerrechtlern anzunähern – und weil der bärtige Oppositionelle die Muslime schützen will. Andererseits hat Drašković für die Bürgerrechtler seine Haltung zu viele Male geändert: Innerhalb von drei Jahren hat sich der Vorsitzende der „Serbischen Erneuerungsbewegung“ (SPO) vom radikalen Nationalisten zum friedliebenden, bürgerlichen Politiker gewandelt. Nur wenige Menschen hatten während des Kampfes für seine Freilassung realisiert, daß es nicht um Drašković oder dessen politische Haltung geht, sondern um die Methoden der serbischen Regierung und der Polizei: Heute verhaften sie Drašković, morgen jemand anderen.

Nur auf militärischer Ebene hat das Milosěvić-Regime sein Ziel erreicht. Es wird Teile Kroatiens und Bosniens erhalten und somit das große Versprechen von „Großserbien“ einlösen. Die Toten, die Zerstörungen und „ethnischen Säuberungen“ waren effektive Methoden, zumal die Weltöffentlichkeit nicht allzusehr entrüstet darüber zu sein scheint. Für Serbien selbst aber zeichnet sich ein Desaster ab: Am Ende des Weges nach „Großserbien“ werden ein Polizeistaat, der ökonomische Kollaps, soziale Misere und Scham gegenüber der ganzen Welt stehen. Zudem ist auch bei einem Ende des Krieges in Bosnien kein Ende der Konflikte abzusehen: Die Struktur des Milošević-Regimes ist auf Angst, Bedrohung durch Feinde von außen und Repression ausgerichtet. In Belgrad fragt man sich daher, wer die nächste „Bedrohung für die Serben“ sein wird. Geht es um die „Heilige Erde“ des Kosovo, die Vojvodina oder um die Säuberung der neujugoslawischen Gesellschaft von „schlechten“, sprich: oppositionellen, nichtnationalistischen Serben?

Bis klar wird, in welche Richtung es in Serbien und Montenegro geht, wird zunächst einmal die jüngste Vergangenheit debattiert: Die Frage, was in den Monaten des Beschusses der slawonischen Stadt Vukovar 1991 tatsächlich passiert ist, beschäftigte dabei auch die offiziellen Medien. Ging es in Vukovar letztendlich um die Zerstörung oder um die Befreiung der kroatischen Stadt? Für die immer schneller verarmenden Belgrader zumindest muß festgehalten werden, daß es in Vukovar heute nur noch Ruinen, Leere und Stille gibt. Und einen einzigen Ort, der ausgezeichnet funktioniert: das Café mit dem Namen „Geschoß“, auf englisch: „Bullit“.