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Die Radler haben Kubas Straßen erobert

Die Energieversorgung der Insel ist katastrophal / Benzin gibt es nur noch zu horrenden Preisen  ■ Aus Havanna Thomas Schmid

Wovon notorische Autofeinde in Deutschland nur träumen können, ist hier in Havanna weitgehend Realität geworden. Kein lärmender Autoverkehr, kein ewiges Warten, bis man mit einer guten Portion Glück heil auf der anderen Straßenseite ankommt, kein Smog. Den Malecón, die sechsspurige Uferstraße der Hauptstadt, haben die Radler erobert, und auch auf allen vierspurigen Hauptadern der Stadt sind zwei Spuren für sie reserviert. So sind also Hunderttausende allein, zu zweit, zu dritt und oft auch zu viert auf dem Drahtesel unterwegs, der Mann auf dem Sattel, die Frau auf dem Gepäckträger, zwei Kids auf der Querstange. Zwanzig Spezialbusse transportieren täglich 7.000 Fahrräder durch den Tunnel der Bucht von Havanna. Die ersten Fahrradtaxis tauchen auf, kubanische Rikschas – die Radchauffeure stehen selbstredend in staatlichem Dienst. Das Hotel Habana Libre, einst Hilton und erster Sitz der Revolutionsregierung, hat seine Tiefgarage zu einem Radparkplatz umfunktioniert. Das Rad ist zum wichtigsten Verkehrsmittel der Hauptstadt geworden.

Die Kubaner haben es den Russen zu verdanken. Hätten die weiter Erdöl zu Billigstpreisen geliefert und dies wie früher in jährlichen Mengen, die Kuba erlaubten, den Reexport des Öls zeitweise zur zweitwichtigsten Einnahmequelle des Landes zu machen, wäre es so weit nie gekommen. Bis 1989 hatte die Zuckerinsel jährlich etwa 13 Millionen Tonnen Erdöl importiert. 1992 waren es nur noch 6,1 Millionen, und dieses Jahr werden es wohl höchstens 3,3 Millionen sein.

Die Folgen sind katastrophal: Die Zuckerernte muß zum Teil mit Ochsen statt mit Treckern eingefahren werden, die Tabakblätter erreichen ihre frühere Größe nicht, weil die Pumpen zur Bewässerung der Felder wegen Energiemangels ausfallen. In Havanna wird inzwischen der Strom täglich für 16 Stunden abgestellt. In vielen Haushalten fließt dann kein Wasser mehr aus den Hähnen, gibt es weder heißen Kaffee noch kaltes Bier, weil der Elektroherd nicht heizt und der Kühlschrank nicht arbeitet, sorgt kein Ventilator für einen ruhigen Schlaf und hilft kein Fernseher über die Langeweile hinweg. Es ist ein Jammer.

Und natürlich ist auch der öffentliche Verkehr so gut wie zusammengebrochen. Die Guaguas, wie die Kubaner ihre städtischen Busse nennen, fahren höchst selten und wenn, dann hoffnungslos überfüllt. Einen Platz in einem der noch selteneren Überlandbusse reserviert man Tage vor Antritt der Reise. Und wenn man einen Platz ergattert hat, steht man vor Abfahrt noch einmal Stunden Schlange. Die Oldtimer aus vorrevolutionären Zeiten, vorwiegend Marke Chevrolet, stehen nutzlos wie Museumsstücke in den Straßen der Hauptstadt. Nur noch eine Minderheit der Automobilisten kann es sich leisten, für einen Liter Benzin auf dem Schwarzmarkt 30 Pesos zu bezahlen. Zehn Liter sind ein Monatslohn. Der Tourist, der der Hitze Havannas entfliehen will, um an der 15 Kilometer entfernten Playa del Este zu baden, nimmt sich also ein Taxi, das er in Dollar bezahlen muß, oder den Hubschrauber, der seit einem Monat stündlich von der Altstadt zum Strand fliegt und den er mit Kreditkarte bezahlen kann. Der Kubaner aber muß eben radeln.

So hat man eben aus der Not eine Tugend gemacht. Und wie im kommunistischen Kuba bei allen revolutionären Wenden und Volten nun mal üblich, wurde die neue Verkehrspolitik von einer breiten staatlichen Kampagne begleitet. Nachdem Fidel Castro „die Ära des Fahrrads“ angekündigt hatte, wurden 1,2 Millionen Räder aus China und 600.000 aus Rußland importiert. Allein in Havanna gab es zu Jahresbeginn bereits 750.000 Räder, zu Jahresende sollen es eine Million werden. Inzwischen hat Kuba sogar eine eigene Fahrradproduktion auf die Beine gestellt. Die Räder werden vorrangig an Arbeiter und Angestellte verkauft, um ihnen die oft stundenlangen Fußmärsche zu ersparen. Für das Gefährt bezahlen sie 120 Pesos, das sind anderthalb Dollar oder eben ein halber Monatslohn. Auf dem Schwarzmarkt kostet ein – oft geklautes – Rad dann das Zehnfache. Üblicherweise parkt man in Kuba sein Rad im Schlafzimmer.

Und es gibt noch mehr Negatives zu vermelden: Radler sind nun mal auch nicht die besseren oder gar Prototypen des neuen Menschen, den das kommunistische Regime zu schmieden verspricht. Fußgänger können ein Lied davon singen. Da gibt es die besoffenen Fahrer, denen keine Fahrerlaubnis je entzogen wird, da gibt es die Raser, die mit ihrem 18-Gang-Mobil die Rampa, einst Prachtstraße der Hauptstadt, hinunterfetzen. Gefährlich aber wird es vor allem nachts. Die Straßenbeleuchtung fällt wegen Stromsperre aus, und die chinesischen Räder haben nun mal kein Licht. Da hilft dem Fußgänger, der in der stockdunklen Nacht aus Sicherheitsgründen mit Vorliebe mitten auf der Straße wandelt, statt an den Häusern entlang zu schleichen, oft nur noch der beherzte Sprung in letzter Sekunde auf den Bürgersteig. Doch es gibt auch die seltenen Exemplare unter den Radlern, die aus Vor- und Rücksicht unentwegt klingeln oder auf ihre Gummilufthupe drücken. Ein ohrenbetäubender Lärm im ansonsten mäuschenstillen nächtlichen Havanna.

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