Sarajevo hat seine Seele verloren

■ Nach 500 Tagen Belagerung funktioniert nur noch der Schwarzmarkt / Dealer und Mafiosi sind ebenso wie die Serben an der Belagerung interessiert

„Dort unten“, sagt der serbische Soldat, und deutet mit seinem Gewehr zwischen den verkohlten Fichten des Berges Trebevic hindurch auf Sarajevo, „dort bin ich aufgewachsen, im Haus meiner Familie“. Seit 16 Monaten sitzt Branko in derselben, aus Feldsteinen gebauten Belagerungsstellung am Rande der bosnischen Hauptstadt. Sein Haus steht noch, aber bei den meisten anderen Gebäuden der Stadt haben er und seine serbischen Kampfgenossen mit ihren Panzern und schweren Geschützen Wände und Dächer perforiert. „Vielleicht kann ich ja mit einem Muslim, der früher dort lebte, die Wohnungen tauschen, wenn wir die Stadtteile südlich der Miljačka befreit haben, und der Krieg zu Ende ist“, sinniert der serbische Soldat. Branko ist sicher, daß ein Zusammenleben der Serben, Kroaten und Muslime Bosniens nie wieder möglich ist. Zwar habe er „die Schnauze voll vom Krieg und vom Dreck“, aber eben auch Angst vor den „Mudschaheddin“, wie er seine ehemaligen muslimischen Nachbarn nennt.

Seit der Wiederaufnahme der Genfer Verhandlungen über eine Dreiteilung Bosnien-Herzegowinas am Montag nachmittag wird auch aus den Stellungen des Trebevic nur vereinzelt geschossen. Von einer serbischen Belagerung Sarajevos, so Brankos Kommandant, könne sowieso schon lange nicht mehr gesprochen werden. Der Offizier der „Armee der Serbischen Republik“ beteuert, daß schon seit ein paar Monaten jeder, der es wolle, die Stadt verlassen könne. „Allein in den Ortschaften rund um den provisorischen Regierungssitz der serbischen Republik in Pale leben heute mehr als 2.500 muslimische Flüchtlinge.“

Unten in Lukavica, der serbischen Kaserne am Rande des Flughafens von Sarajevo, bietet Militärsprecherin Snejana eine Nacht auf einem serbischen Beobachtungsposten am Rande des Rollfelds an. Seit Beginn der Belagerung vor 500 Tagen ähneln sich hier die Bilder: Bereits im Januar dieses Jahres waren die ersten bosnischen Flüchtlinge unter den Suchscheinwerfern der UN-Schutztruppen für das ehemalige Jugoslawien (UNPROFOR) und dem Feuer vereinzelter, serbischer Scharfschützen über die Piste in die Freiheit gerannt.

Doch in dieser Nacht fällt kein Schuß, auch nicht, als in umgekehrter Richtung bosnische Soldaten mit schwerem Gepäck, Waffen und Munition den Weg nach Dobrinja zu den ersten Verteidigungsstellungen der „Armee von Bosnien-Herzegowina“ nehmen.

Es sind nicht nur Waffen und Munition, die seit Beginn des Krieges in Bosnien über die unwegsamen Berge Igman und das Bjelašnica-Massiv in die bosnische Metropole gebracht wurden. Vorbei an den serbischen Stellungen zwischen den Stadtteilen Iljidža und Lukavica hatten bosnische Händler für viel Schmiergeld den zweiten Versorgungsweg neben den Hilfslieferungen des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) und anderer Hilfsorganisationen eingerichtet. Solange die Versorgungsrouten von der dalmatinischen Hafenstadt Split, die Herzegowina und Mittelbosnien noch offen waren, kam fast alles nach Sarajevo. „Ich habe gute Beziehungen und Geld“, strahlte Predrag P. vor einigen Wochen und servierte zu rotem Bordeaux frischen Fisch aus der Adria und französischen Rohmilch-Camembert.

Mit serbischer „Šlivovica“ und Zigaretten aus der benachbarten „Bundesrepublik Jugoslawien“ sind noch heute lukrative Geschäfte zu machen. Gegen harte Deutschmark wird auf den Schwarzmärkten auch nach 16 Monaten Belagerung all das angeboten, was aus den internationalen Hilfslieferungen ohnehin für die rund 380.000 in der bosnischen Hauptstadt verbliebenen Menschen vorgesehen, dann aber von der bosnischen Armee zur Selbstverköstigung erst einmal konfisziert worden war. Dealer, Kriegsgewinnler und Mafiosi, so der stellvertretende Oberbefehlshaber der bosnischen Armee, Jovan Divljak, seien mindestens ebenso wie die Serben an der Belagerung Sarajevos interessiert und beteiligt.

Für die bosnische Armee und die Militärpolizei Sarajevos sind unter den Bedingungen der Belagerung der Handel mit internationalen Hilfsgüter und der Schmuggel von Lebensmitteln, Schnaps und Zigaretten zu einer lukrativen Einnahme- und Devisenquelle für den Kauf von Waffen und Munition geworden. Dieser schwarze „Versorgungsmarkt“ hat in den vergangenen Wochen zunehmend zur Verschärfung von Streitigkeiten in der Armee, und zu ethnischen Vertreibungen innerhalb der Stadt geführt. Nach wie vor stehen vier der neun Stadtteile Sarajevos unter der Kontrolle der mehrheitlich muslimischen bosnischen Armee, deren Kommandeure und Soldaten oft längst zur unkontrollierbaren Selbstbedienung übergegangen sind. Unter dem patriotischen Hinweis, die Stadt zu verteidigen, wurden nicht nur ganze Warenlager beschlagnahmt, sondern auch Hunderte von Zivilisten zur Fron- und Frontarbeit an die vordersten bosnischen Linien verschleppt. Um muslimischen Flüchtlingen aus Ostbosnien in Sarajevo eine Bleibe zu verschaffen, wurden serbische und kroatische Bürger Sarajevos aus ihren Wohnungen und Häusern in den Altstadtbezirken der Stadt vertrieben. Die muslimischen Armeekommandanten, denen vorgeworfen wird, mehrere hundert serbische Zivilisten eigenhändig liquidiert zu haben, sind der bosnischen Armeeführung bekannt. Versuche, das kriminelle Treiben zu unterbinden, blieben bisher aber erfolglos. Wenn der Krieg von außen zu Ende ist, befürchten kroatische, serbische und muslimische Intellektuelle in der Stadt, „dann wird er im Inneren beginnen, Sarajevo hat seine Seele verloren.“ Dietrich Willier