: „Gewalt gegen Frauen beruht immer auf Mißbrauch von Macht“
Bei Prag trafen sich Feministinnen aus Osteuropa, um über Menschenrechts- verletzungen an Frauen in ihren Ländern zu diskutieren ■ Aus Liblice Helga Lukoschat
Ein kleines Schloß in Liblice in der Nähe von Prag. Die Frauenkommission der Helsinki Citizen Assembly, jener im Aufbruchsjahr 1990 formell gegründeten, europaweiten Bürgerrechtsbewegung, hat zu einer Konferenz eingeladen: „Gewalt an Frauen in Ost- und Mitteleuropa und der früheren Sowjetunion“. Im aristokratischen Speisesaal erzählen sie alle durcheinander, Frauen aus Rumänien, Albanien, Bulgarien, Ungarn, Tschechien, Rußland, Armenien, Aserbaidschan. Eine Handvoll Engländerinnen und US-Amerikanerinnen, Serbinnen, Kroatinnen, zwei Frauen aus Deutschland.
Eine erzählt begeistert vom Frauenstreik in der Schweiz. Die beiden albanischen Frauen grinsen. Als sie in Albanien von dem Streik der Schweizerinnen hörten, sagt Delina, hätten sie überlegt: Wenn schon die in der Schweiz streikten, was bliebe dann den albanischen Frauen? Kollektiver Selbstmord? Versammeln wir uns alle auf dem Hauptplatz von Tirana und erschießen uns gemeinsam?
Aufbrüche
Die Fallen und Mühen des Alltags, die Osteuropäerinnen begegnen ihnen mit Galgenhumor. Angesichts der sozialen und wirtschaftlichen Umbrüche, wieviel Frauen können da die Zeit, die Kraft und das Interesse aufbringen für Politik, für Frauenpolitik zumal? Und dennoch: Zumindest in den Hauptstädten sind überall feministisch inspirierte Initiativen entstanden. Zumeist sind es intellektuelle Frauen, die sich in Kreisen, Zirkeln und Clubs zusammenschließen. In Tirana zum Beispiel haben sich die Frauen nicht erschossen, sondern den „Klubi Refleksione“ gegründet. Sie wollen eine Bibliothek aufbauen, Veröffentlichungen vorbereiten, einen „Runden Tisch“ der verschiedenen Frauenorganisationen initiieren. Sie sind voller Energie, und trotz aller Schwierigkeiten genießen sie es, Politik zu machen und sich zu „vernetzen“.
In Budapest gibt es das „Feministische Netzwerk“, das jetzt auch einen Notruf und ein Frauenhaus ins Leben rufen will. In Prag hat sich ein unabhängiges „Zentrum für Geschlechter-Forschung“ etabliert. In Bukarest gibt es die „Gesellschaft für Feministische Analysen, Ana“, die ebenfalls Informationen und Analysen zur Situation der Frauen veröffentlichen will. Ähnliche Initiativen sind in Moskau, St. Petersburg, in Warschau entstanden.
Gewalt gegen Frauen
Chris Chorin aus Glasgow, die westliche Vorsitzende der Frauenkommission der Helsinki Citizen Assembly, betont in ihrem Einleitungsreferat, Gewalt gegen Frauen in all ihren Formen sei als Menschenrechtsverletzung zu begreifen. Mehrfach verweist sie auf die diesjährige UN-Menschenrechtskonferenz in Wien. Endlich, so sagt sie, wurde dort anerkannt, daß Gewalt gegen Frauen ein „schwerwiegendes Hindernis ist, um Gleichheit, Entwicklung und Frieden zu erreichen“. „Gewalt gegen Frauen beruht immer auf Mißbrauch von Macht“, erklärt sie. Ein patriarchales Muster: das Recht des Stärkeren ausspielen, Konflikte gewaltsam lösen, geleitet von dem eigenen Überlegenheits- und Dominanzgefühl.
Die öffentliche Debatte in den Ländern Osteuropas ist von dieser Sicht der Dinge weit entfernt. Wie die Frauen aus unterschiedlichen Ländern berichten, wird Gewalt gegen Frauen, wenn überhaupt, im Kontext der allgemeinen Zunahme von Kriminalität und Verbrechen diskutiert, oft genug in verzerrender, sensationsheischender Manier. Forschungen und zuverlässige Daten gibt es nirgends. Zur Verfügung stehen lediglich Statistiken über die Anzahl verurteilter Vergewaltiger. In Albanien mit seinen drei Millionen Einwohnern wurden im vergangenen Jahr 57 Männer, meist jüngeren Alters, verurteilt. In Rumänien 1.470. Alle Frauen betonen die hohe Dunkelziffer. Den Gang zur Polizei, die Anzeige, wird ihrer Ansicht nach vom überwiegenden Teil der Frauen gescheut. „Auf den Polizeistationen herrschen entwürdigende Bedingungen“, klagt die Ungarin Judit Ascady. Das Opfer müsse damit rechnen, erneut beleidigt und diskriminiert zu werden. Vor allem Gewalt gegen Frauen in Familien und Beziehungen sind ein „Tabuthema“. Da herrsche die Vorstellung, irgendwie seien die Frauen selbst schuld, wenn es in der Ehe nicht „gut“ laufe. Eine gute Ehe, beschreibt Jolanta Plakwicz aus Warschau ironisch die zählebigen sozialen Muster, bestehe darin, „daß der Mann nicht trinkt und nicht schlägt und die Frau das Haus in Ordnung hält“.
Hat die Gewalt an Frauen in den Zeiten der „Post-Perestroika“ zugenommen? Ein „Wild-West- Kapitalismus“, erkärt Natasha Khodyreva aus St. Petersburg, mache sich in Rußland breit. Mit kaum einem anderen „Industriezweig“ außer Drogen und Waffen ließe sich gegenwärtig so viel Geld verdienen wie mit organisiertem Frauenhandel. Alle Länder Osteuropas sind davon betroffen. In Albanien gab es jüngst Berichte, daß junge Mädchen in griechische Bordelle verschleppt worden seien. Die Zahl der bulgarischen und rumänischen Frauen, die in Westeuropa als Prostituierte arbeiten, soll in die Tausende gehen. Antonia Burrows vom ungarischen Frauennetzwerk berichtet, daß nach jüngsten Erhebungen inzwischen die Hälfte der ausländischen Prostituierten in den westlichen Ländern Frauen aus Osteuropa seien. „Hauptabnehmer“-Staaten seien Österreich, Deutschland, die Niederlande. Betroffen von den skrupellosen Geschäften seien auch Kinder. Und wie in Lateinamerika mehrten sich die Anzeichen, daß insbesondere Kinder Opfer von „Organhändlern“ werden.
„Ihr könnt Euch so ein Leben nicht vorstellen“, klagt Karin Khachaturjan aus Armenien. Leben unter den Bedingungen der Kriegswirtschaft: zwei Stunden am Tag Elektrizität, kein Heizmaterial, knappe Lebensmittelrationen. Den ganzen Winter über waren die Schulen geschlossen.
Kriegsgewalt
Das soziale und kulturelle Leben liegt darnieder. „Die Menschen sind deprimiert und niedergeschlagen und sie sind des Krieges müde“, sagt die Armenierin, die im armenischen Komitee der Helsinki Citizen Assembly (HCA) engagiert ist. Über Gewalt gegen Frauen in den Familien, über Prostitution, verliert sie ein, zwei Sätze. Das ist nicht ihr Thema.
Kurz darauf berichtet Sadagat Karimova aus Aserbaidschan von der Situation in ihrem Land. 800.000 Flüchtlinge aus armenisch besetzten Gebieten hat Aserbaidschan zu versorgen, die Lebensbedingungen in den Flüchtlingslagern seien katastrophal. Alle Verbrechen wie Vergewaltigungen, Verstümmelungen und Geiselnahmen seien in diesem Krieg begangen worden, erklärt die Journalistin. Die HCA-Komitees in beiden Ländern bemühen sich um Vermittlung, versuchen vor allem, den Austausch der Geiseln und Kriegsgefangenen voranzubringen. Sechs Jahre währt der kriegerische „Konflikt“ zwischen Armenien und Aserbaidschan um die armenische Enklave Nagorny-Karabach, ein Ende ist noch nicht in Sicht. „Der Krieg ist die schlimmste Form der Gewalt an Frauen“, erklärt schließlich Begcarian Gayane aus Nagorny-Karabach. Bombardierungen, Tote und Verletzte. Der Krieg zerstöre die „Basis des Volkes“, sagt sie, indem er Frauen das „Recht auf Mutterschaft“ nehme. Über Vergewaltigungen als Mittel der Kriegsführung, wie sie im ehemaligen Jugoslawien angeprangert werden, sprechen die Frauen aus dem Transkaukasus nicht. Sie fordern auch keine Bestrafung der Täter, keine internationalen Strafprozesse.
Hintergründe, Motive und Ursachen des Krieges zwischen ihren Ländern bleiben ungenannt. Der Krieg erscheint in ihren Berichten als schicksalhafte Naturgewalt. Einmal flackert kurz Spannung auf. Als die aserbaidschanische Berichterstatterin eine Resolution der Helsinki Citizen Assembly gegen die armenische Besetzung der Stadt Agdam verlangt, spricht sich die Armenierin vehement dagegen aus. Die anderen Frauen wissen nicht, wie sich verhalten. Die Organisatorinnen intervenieren und beenden die Debatte kurzum.
Abends sitzen alle am offenen Feuer im Schloßpark unter alten Bäumen. Unwirklich, nach einem Tag der Berichte über Kriegsgewalt und brutale Mißhandlungen. Die Entspannung fällt schwer, Lagerfeuerromantik scheint unangebracht. Dennoch beginnen die Frauen zögerlich, Lieder aus ihren jeweiligen Ländern anzustimmen. Russische, tschechische, armenische Lieder. Die Frauen aus Bosnien, Serbien und Kroatien singen gemeinsam. Lieder, die ihnen allen gehören. Alle Spannungen, auch die vom Tag, scheinen vergessen.
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