Ein Kampf zwischen kommunistischen Parteicliquen

■ Für den Prager Frühling interessiert sich in Prag heute fast niemand mehr

Als im November 1989 Hunderttausende Tschechen und Slowaken dem realsozialistischen System ein „sanftes“ Ende bereiteten, fühlten sich sicherlich viele von ihnen an den Prager Frühling erinnert. Dabei dürfte jedoch das politische Programm des „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ die kleinere Rolle gespielt haben. Die überschäumenden Gefühle wurden vielmehr hervorgerufen von der Erinnerung an die Atmosphäre jener Monate. Von der Erinnerung an die Aufbruchstimmung und an die großen Hoffnungen, die am 21. August schließlich gewaltsam ausgelöscht wurden – noch bevor der politische Alltag sie hätte enttäuschen können.

Daß es keine Rückkehr zum Reformkommunismus geben wird, das wurde schon in den ersten Wochen der „sanften Revolution“ klar. Ja, eigentlich hätten die Reformkommunisten bereits ein Jahr vorher jede Hoffnung auf eine Wiederbelebung ihrer Ideen aufgeben können. Denn das Manifest „Demokratie für alle“, das im Herbst 1988 von oppositionellen Gruppierungen veröffentlicht wurde, enthielt bereits die Forderung nach einer pluralistischen demokratischen Gesellschaft samt einer vorsichtiger Bejahung der Prinzipien der Marktwirtschaft. Und so wirkte Alexander Dubček, einer der wenigen tschechoslowakischen Politiker, die sich von den Vorstellungen des demokratischen Sozialismus nicht ganz verabschieden mochten, in dem neuen politischen Kontext wie eine Geige ohne Resonanzboden.

Auch wenn gleich in den ersten Tagen nach dem 17. November 1989 offensichtlich war, daß es keine Rückkehr zum Reformkommunismus geben würde, hätte sich kaum jemand damals vorstellen können, daß knapp vier Jahre später der Prager Frühling beinahe wieder so umstritten sein würde wie zu Beginn der sogenannten „Normalisierung“ nach der August-Okkupation. Nach der offiziellen Lesart der regierenden Koalition war der Prager Frühling nichts mehr und nichts weniger als ein Kampf zwischen zwei Flügeln innerhalb der KP.

Die Gründe für diese Marginalisierung des Reformkommunismus sind einleuchtend: Die sich selbst als „rechte Partei“ definierende ODS von Premier Václav Klaus kann eine mit der kommunistischen Vergangenheit verbundene – und trotz des tragischen Endes – positiv besetzte Erinnerung nicht gebrauchen. Schon heute ist klar, daß die tschechischen Kommentare und Artikel zum 25. Jahrestag des sowjetischen Einmarsches diese Interpretation erneut stärken werden. Und so wird die Konferenz „Prag-Berlin-Paris 1968“, die die Heinrich-Böll-Stiftung Ende Mai in Prag veranstaltete, mit Sicherheit die einzige Veranstaltung dieser Art bleiben.

Es entbehrt nicht der Ironie, daß die tschechische politische Öffentlichkeit, die sich um die Rückkehr nach Europa so viel Sorgen macht, total übersieht, daß durch die Ereignisse des Jahres 1968 und ihre internationale Bedeutung das Land im zeitgeschichtlich-politischen Sinne diese Reintegration schon längst erreicht hat. Ein politisches Kapital, nicht zuletzt auch ein Vorschuß an Sympathien, liegen hier brach, die auch international zu nutzen wären. In diesem Sinne war sowohl die Anwesenheits- als auch die Abwesenheitsliste der Prager Tagung für die aktuelle politische Lage in Prag bezeichnend. Sowohl Daniel Cohn- Bendit als auch Joschka Fischer und Gretchen Dutschke hatten sich Zeit genommen, um nach Prag zu kommen. Die tschechische politische Repräsentanz glänzte dagegen durch Abwesenheit.

In dieser europäischen Perspektive erweist sich das tschechoslowakische Jahr 68 nur vordergründig als eine „kommunistische Revolte von oben“, wie es die heutigen tschechischen Politiker sehen möchten, sondern als einer der größten Ausbrüche von utopischen Energien in der modernen osteuropäischen Geschichte, vergleichbar mit dem Jahr 1848. Und wenn es heute in Europa überhaupt noch, mit Habermas gesprochen, utopische Oasen gibt, dann werden sie aus dem Glauben an die Veränderbarkeit der politischen Verhältnisse, diesem Erbe des Jahres 68 genährt. Offenbarte sich in Prag 68 die Krise des Sozialismus, die mit dem Zusammenbruch des „Ostblocks“ im Jahre 1989 endetete, so zeigte sich in der Studentenbewegung des Westens die Krise des Kapitalismus, die wir nach der deutschen Wiedervereinigung in ihrer ganzen Tragweite zu spüren bekommen.

Wenn es der Konferenz gelungen ist, und darin liegt ihr wichtigster Beitrag zur weiteren Rezeption des Jahres 1968, die These vom Prager Frühling als der „Reform von oben“, in Frage zu stellen, dann ist dies den früheren Aktivisten der Studentenbewegung zu verdanken. Diese „jüngsten“ Teilnehmer der Konferenz haben sich hier wohl zum ersten Mal als eine „Generation“ profiliert. In ihren Beiträgen wurde deutlich, daß die Studentenbewegung sich schon seit Mitte der sechziger Jahre um die Erweiterung der gesellschaftlichen Räume bemühte. Daß diese verschiedenen Gruppierungen, durch das Ziel einer sozialistischen Marktwirtschaft verbunden, unter dem „Hut“ der Partei agierten, hing weniger mit der kommunistischen Gesinnung ihrer Akteure zusammen, als damit, daß die KP die einzige Plattform war, von der aus politische Aktivitäten möglich waren. So konnte aber auch der Eindruck entstehen, daß die gesellschaftliche Bewegung von „oben“ gelenkt wurde. Gestellt werden muß jedoch die Frage, ob ohne den massiven Druck von unten die Reformen von oben möglich gewesen wären. In diesem Sinn ist es richtig, den Frühling als Bürgerbewegung zu bezeichnen.

Vergleicht man die sechziger Jahre mit der heutigen tschechischen Realität, so scheint es, daß die Gesellschaft damals kreativer war. Es wurde nach eigenen Wegen und Lösungen gesucht, während heute die Losung „Keine Experimente bitte“ zum obersten Credo der Politiker und ihres Publikums geworden ist. Mehr als nur deutlich wird so, wieviel Zuversicht und Hoffnung die tschechische Gesellschaft in den vergangenen 20 realsozialistischen Jahren eingebüßt hat. Alena Wagnerová

Die Autorin lebt als Publizistin in

Deutschland