■ Die SPD, Johannes Rau und die Große Koalition
: Die Angst vor der Differenz

Der Kanzler hat gut spotten. Aus dem Urlaub ließ er die Sozialdemokraten wissen, daß er ihre Strategie für 94 durchschaut und für eher schwächlich befunden habe: Statt „den Helmut Kohl“ abzulösen, was sie sich offensichtlich nicht mehr zutraue, versuche die SPD „über den Hintereingang in die Arena“, sprich über die Große Koalition an die Macht zu kommen. Davon hält er nicht viel. Kohl ist kein Freund der großen Koalition, aktiv betreiben jedenfalls wird er sie nicht. Er oder Schäuble werden sie eingehen, falls nach der nächsten Bundestagswahl die konservativ-liberale Mehrheit dahin sein sollte. Ganz pragmatisch. Bis dahin wird abgelehnt.

Anders die SPD. Sie profiliert sich, mit Scharping noch deutlicher als unter Engholms Vorsitz, als christdemokratischer Wunschpartner. Es bedürfte erst gar nicht der Versuche des neuen Parteichefs und seines Geschäftsführers, die Große Koalition als Möglichkeit ins Gespräch zu bringen; der Trend hin auf die Union ist unverkennbar – auch ohne die verbalen Verrenkungen, in denen der sozialdemokratische Rest-Stolz immer noch ein bißchen dementiert, was die Strategen offenbar als einzige Chance ansehen, aus dem heillosen Oppositionsstatus herauszufinden. Asyl, Solidarpakt, Bundeswehreinsätze, innere Sicherheit; die SPD würde 94 einfach gerne formalisieren, was seit 92 de facto stattfindet.

Esel und Mohrrübe

Einmal, 1969, hat die SPD bislang den Bonner Machtwechsel erreicht. Vorlauf: die Große Koalition 1966. Alles deutet darauf hin, als sei die SPD nach zehn Jahren Kohl so zermürbt, daß ihr diese Variante nicht mehr als risikoträchtige Notlösung, sondern als Königsweg zum eigentlichen Wechsel erscheint. So fixiert scheint die SPD auf die Idee der schrittweisen Ablösung Kohls, daß sie dem schon unterstellt, er werde sich dabei hilfsbereit zeigen: Johannes Rau, so weiß mittlerweile jeder Sozialdemokrat, soll Bundespräsident werden. Wie von der Wahl Heinemanns seinerzeit das Signal für die sozial-liberale Ära ausging, wäre die Wahl Raus im Mai 94 die sicherste Ankündigung der Großen Koalition. Aber warum sollte ausgerechnet Kohl ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl den Startschuß für das ungeliebte Projekt geben? Selbst wenn er zu der Einsicht gelangte, er brauche die SPD in der Regierung, um die unausweichlichen „Einschnitte“ durchzusetzen, könnte Rau der Unterstützung des Kanzlers nicht sicher sein. Denn auch wenn Kohl sich für einen anderen Kandidaten entscheidet, geht er damit – nach allen Signalen der SPD – kaum das Risiko ein, die enttäuschten Sozialdemokraten könnten sich einer Großen Koalition verweigern. Also, warum sollte er?

Das Modell

An der vagen Hoffnung, sie dürfe mit Kohls Plazet den Präsidenten stellen, läßt sich aufs neue die Krise der SPD ablesen. Sie akzeptiert vorab, daß Kohl die Entscheidungen trifft, und macht sich abhängig von dessen Wohlwollen. Statt sich die eigene Initiative zuzutrauen und in der Präsidentschaftsfrage von der Machtpolitik Kohls abzusetzen, setzt sie mit Rau auf den „eigenen“ Kandidaten – von Kohls Gnaden. Mit dem jedenfalls bringt sich die SPD nicht nur in der symbolträchtigen Personalsache, sondern weiter auch als Gesamtpartei um ihre Handlungschancen: Sie bleibt paralysiert, bis Kohl kurz vor der Wahl seinen Ratschluß bekannt gibt. So lange wird er nach allen Seiten Hoffnungen ausstreuen und so jedes Aufbegehren gegen sein Entscheidungsmonopol verhindern. Am Ende werden sich, allen voran die geprellten Sozialdemokraten, die Augen reiben.

So ist das eben: Der Union bleibt außer einer unsicheren Variante für 94 – die Verteidigung der liberal-konservativen Mehrheit – nur die Große Koalition. Die SPD hingegen könnte sich mit rot-grün, sozial-liberal, Ampel oder Großer Kalition vier denkbare Optionen offenhalten. Doch aus mangelndem Selbstvertrauen, Staatsfixiertheit und Unlust, die Einheitskrise als Chance wahrzunehmen, stellt sie vorab die Weichen auf die Elefantenhochzeit. Die Union bleibt so aufs Regieren abonniert, die Opposition agiert weiter in deren Windschatten.

Darin liegt der Unterschied zum Vorbild von 1966. Zwar lief auch damals die Strategie darauf hinaus, in der Koalition mit einer ausgelaugten Union den Einstieg in die Bonner Machtsphären zu vollziehen; doch das Kalkül konnte nur aufgehen, weil die SPD mit ihren entspannungs- und ostpolitischen Vorstellung ein plausibles Gegenprojekt anzubieten hatte, das zudem im weltpolitischen Trend lag, dem sich die Konservativen halsstarrig entgegenstemmten. Erst die Alternative, die sie der sturen Konzeptionslosigkeit der Union entgegensetzte, brachte ihr drei Jahre nach dem Einstieg in die Große Koalition 1969 die Chance zum Wechsel und 1972 den größten Wahlerfolg ihrer Geschichte.

Die Voraussetzungen heute sind denkbar entgegengesetzt. Der Einheitsschock, die Infragestellung ihres einstigen identitätsstiftenden Zentrums, der Ost- und Entspannungspolitik, die randständige Rolle im Einheitsprozeß, in dem sie bereits wider besseres Wissen auf Kopie der Union setzte und verlor – das alles ist bis heute bestimmend für das abschmelzende Selbstbewußtsein. Das einheitspolitische Desaster der Regierung kann die SPD nicht in den Vertrauensvorschuß verwandeln, sie werde es anders und besser machen. Daß die Opposition von einer schwachen Regierung profitieren kann, ist längst kein Automatismus mehr. Schon deshalb nicht, weil die SPD mit ihrer indifferenten Kooperationsstrategie längst als Moment der Regierungskrise wahrgenommen wird.

Der Versuch, die 66er Variante erfolgreich zu wiederholen, ginge wohl nur auf, wenn sich die SPD gerade nicht unionskompatibel zu machen suchte, wenn sie nicht auf Kopie, sondern auf Gegenentwurf setzte. Doch statt dem Willen zum Eigenprofil herrscht die Angst vor der Differenz, gilt die Angleichung als Ticket zum Machtwechsel. 1966 wollte die SPD eine Neuorientierung durchsetzen. Heute hätte sie ihre originäre Gestaltungskraft schon beim Einstieg in die Große Koalition aufgegeben.

Riskantes Kalkül

Wie anders käme die SPD jetzt auf die Idee, das Thema Innere Sicherheit zum Wahlkampfthema auszurufen? Es ist schon grotesk: Um nicht wie im Asylstreit erneut in die Defensive gezwungen zu werden, wird jetzt der Trend zur Anpassung in den Anspruch gekleidet, man wolle den Konservativen eine ihrer klassischen Domänen streitig machen. Wer soll der SPD abnehmen, sie könne in einer Auseinandersetzung, die von der Mobilisierung von Ängsten lebt, irgend etwas gewinnen? Was treibt die SPD dazu, eine Debatte mitzuinszenieren, die die Ratlosigkeit der Politik nur zudeckt und weitere Enttäuschung programmiert. Während Gesellschaft und Politik noch konsterniert und hilflos auf die brutalen Ausläufer einer populistisch aufgeladenen Asyldebatte starren, wird die nächste Auseinandersetzung dieser Art in den Parteizentralen schon konzipiert.

Auf dem Rückweg zur Macht zahlt die SPD derzeit einen hohen Preis. Je bereitwilliger sie ihn entrichtet, desto unklarer wird, wofür anders als die Amtsinhaber sie die erhoffte Macht einsetzen will. Daran könnte das ganze schöne Kalkül am Ende doch noch scheitern. Matthias Geis