Das Wunder von Belet Huen

Im seinen friedlichen Mittel- und Nordregionen entsteht Somalia neu – aber anders: Pastoraldemokratie, die sich um Grenzen nicht schert, und Freihandel, genährt von zahlungskräftigen Ausländern  ■ Von Rupert Neudeck

Somalia soll wieder auferstehen! Aber ganz anders, als wir uns das vorstellen. Die Somalis sind ein Volk, das mit Demokratie begabt ist.

In Erigavo, einer wunderbar in einem malerischen Gebirgszug gelegenen Waldstadt im nördlichen Somaliland, sitzen seit dem 25.Juli ununterbrochen die jeweils 25 Ältesten („Ugassis“) der verschiedenen Clans, Subclans und Stämme der Ostregion Sanaag und beraten. Oft sagen wir Europäer naserümpfend: sie palavern. Und vergessen dabei, wie unendlich menschenfreundlich das Palaver ist. Weil es den Krieg ausschließt.

Nun palavern sie wieder. Nein, nicht in ganz Somalia, Mogadischu und Kismaju sind davon ausgenommen. Aber in Nord-Somalia, in den Grenzen des alten Britisch- Somaliland, und in Mittelsomalia in und um Belet Huen – da palavern sie. Und das ist gut so.

Diese großen Ratssitzungen sind wichtig, ihre Dauer kann der notorisch ungeduldige Europäer gar nicht beurteilen, denn sie ist indifferent. Die große Konferenz im Frühjahr von 1991, die zur Konstitution von Nordsomalia als „Republik Somaliland“ führte, dauerte an die acht Wochen. Nicht weniger lang geriet die große Konferenz der insgesamt 400 Ältesten und Intellektuellen der nordsomalischen Clans in Borama im März/April 1993, die mit über 90 Prozent der Stimmen den neuen Präsidenten der neuen Republik wählte: Mohammed Ibrahim Egal.

Der Name ist in der Zeitgeschichte des 1960 in die Unabhängigkeit entlassenen Somalia nicht neu. 1967 wurde er Premierminister, zum Präsidenten hatte man sich Shermarke gewählt – dessen Name auf somalisch eindrucksvoll klingt: sher (der merkt) ma (nicht) rke (das Böse). Auf deutsch: Ein Optimist. Damals probte man die Formen westlicher parlamentarischer Demokratie, und die paßte nur sehr bedingt auf das in kleinste Kantönli-Interessen sich ausdifferenzierende Somalia. Bei den Wahlen von 1969 bewarben sich 62 Parteien, entsprechend den Clangruppen. Wieder wurde Egal Premierinister, Shermarke Präsident.

Aber es roch 1969 nach Putsch in Somalia, und so geschah es: Am 15.Oktober 1969 wurde Präsident Shermarke ermordet. Am 21.Oktober übernahm die Armee unter dem damals unbekannten General Siad Barre die Macht. Ein anderer Heerführer namens Oberst Mohammed Farah Aidid – der ebenfalls mit seinen Soldaten den Coup geplant hatte, aber in der Durchführung um eine Nasenpitze zu spät kam – wurde ebenso inhaftiert wie jener damalige Premierminister Egal.

Es dauert lange, daß wir Europäer uns an so etwas gewöhnen – eine pastorale Demokratie. Und nicht länger auf einer westlichen Westminster-Demokratie beharren, die dann wieder zu einer Clan- Parteien-Demokratie à la Mogadischu 1960 bis 1969 führt.

In westlichen Exilsomalis spielt sich das Drama des somalischen Volkes ebenso verzweifelt ab wie in den Kat-kauenden jungen Rambos, die martialisch ihre eigenen „Brüder“, wie sie immer sagen, mit Mörsern, Haubitzen und MPs bedrohen. Diese langsame Entwurzelung frißt sich langsam in die Seele der Somalis. Und sie fangen an, diese Entfremdung zu überspielen: durch das Herummarodieren nach Rambo-Art. Oder durch das Morden der eigenen Bevölkerung in den Milizen. Oder sie werfen sich in die Arme eines straffen, reichen Fundamentalismus – der aus der Kälte Saudi-Arabiens kommt, die in Somalia, dem Land voller Weihrauch und Myrrhe, nie etwas zu suchen hatte.

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Das Camp der deutschen Bundeswehrsoldaten wurde groß und immer größer. Schon aus der Luft ist erkennbar: Dieses Militärcamp der Deutschen, Nigerianer und Italiener wird in kürzester Zeit größer sein als die fünftgrößte Stadt des Landes – Belet Huen.

Die Bundeswehr hat kräftig nachgefüttert. 1.700 sind es geworden. Unter den 1.700 waren auch vier vorgesehen als „Bügler“: Eine riesengroße Waschküche, elektrisch, mit viel Diesel (nicht etwa Solarenergie, das gibt es im Camp der Deutschen nicht, wie überhaupt nichts ökologisch Alternatives) soll mit einer Bügelmaschine versehen werden und vier Bundeswehrrekruten als Büglern. In einem Land, in dem man bei 40 Grad trockener Hitze ein Kleidungsstück nur eine Minute in den Wind halten muß, schon ist es trocken...

Der militärische Trott geht weiter, fast wie in einer Kaserne, nur unbequemer. Die beiden jungen Freiwilligen, die mich vom Airstrip durch die boomende Stadt fahren, sind schon klüger. „Hier ist alles anders als wir es gelernt haben!“ sagen sie lachend. Wie denn? „Ja, beim Bund haben wir gelernt, mit diesen LKWs: Es gilt die Devise Täuschen – tarnen – verpissen!“ Und hier ist das Gegenteil gefragt: Man muß sich ganz auffällig als UNO bemerkbar machen, dafür die Wagen weiß anstreichen, am besten in Leuchtfarbe.

Die LKW-Fahrer dürfen wenigstens dreimal am Tag zum Airstrip, wo wieder die Transall aus Dschibuti mit den Plastikwasserflaschen ankommt. Denn die Bundeswehr, so erzählt der PIZ-Chef Oberstleutnant Bardet in seinem Presse- und Informations-Gefechtsstand blumig, habe eine sehr gute und teure Wasseraufbereitungsanlage am Schebelle (einer der beiden großen Flüsse Somalias) übernommen. Die produziere 75.000 Liter einwandfreies, durch zwei Gutachten erfolgreich getestetes Wasser. Davon gehen 19.000 an die Deutschen, 15.000 an die Nigerianer und nochmal 15.000 an die Italiener. 8.–9.000 schütte man in die Zisternen der Nomaden und Bauer. Daneben läßt man mit den superteuren Transalls aus Dschibuti Wasser in Plastikflaschen kommen. In Dschibuti verkauft der Großhändler André Ficara von der Supermarktfirma Sadega pro Woche 7.000 Kartons mit je 12 Plastikflaschen à 1,5 Liter. Die werden andauernd eingeflogen.

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Wir sind angemeldet beim „Ugas“, das ist eine Art König, des mächtigen Galjel-Stammes. Sein voller, schöner Name: Abdullahi Ugas Mohammed. Der zweite Name bedeutet: Auch sein Vater war ein Ugas. Und als wir mit einem Taxi (das für einen halben Tag 50 Dollar kostet – die Bundeswehr zahlt alle Preise) – auf den kleinen Hof eines stattlichen Gebäudes fahren, erleben wir das alte Somalia. Das ehrwürdige, in der Alter, die ererbte Würde und die nomadische Humanität noch etwas bedeuten.

Der Ugas Abdullahi ist eine wirklich imponierende Erscheinung. Seine stattliche Statur wird noch durch ein weißes Gewand, einen wundervoll verzierten Turban, eine große Schärpe und ein Gesicht mit zwei großen, neugierigen, strengen Augen unterstrichen. Er hat sich in einer aus Reisig und Büschen zusammengeflochtenen Hütte für den Empfang hingesetzt; wir drei Gäste müssen auf erhöhten Sesseln Platz nehmen. Um den Ugas haben seine Getreuen sich hingelagert.

Der Ugas, so erfahren wir, sieht nicht nur mächtig aus, er ist es auch. Er ist das Oberhaupt eines bevölkerungsreichen Clans, er soll seine Weiden und Wohn- und Wandergebiete bis jenseits der äthiopischen Grenze und über Belet Huen bis hinunter nach Kismaju haben. Er berichtet von einer Reise nach Äthiopien, nach Addis Abeba zum neuen Präsidenten Meles Zenawi – dessen Namen in Somalia einen guten Ruf hat. Er habe als Chef des Clans, der fast ein Viertel der nomadischen Bevölkerung Somalias ausmacht, ein regelrechtes Grenzabkommen abgeschlossen. Die Hirten und Nomaden dürfen jetzt die Grenze zwischen Somalia und Äthiopien ohne jede Zollkontrolle überqueren. Man wird die Grenzüberschreiter nach Waffen durchsuchen. Sonst nichts.

Das ist sensationell. Nach so vielen quälenden Jahrzehnten, in denen die nomadische Bevölkerung Ostafrikas unter den verfluchten Grenzen gelitten hat, in denen um diese Grenzen mehrmals Krieg geführt wurde, ist hier zwischen einem vernünftigen Äthiopier und einem klugen Ugas ein Vertrag geschlossen, der Geschichte machen könnte. Denn Nomaden müssen beim Wechsel von Regen- zu Trockenzeit ihre Weidegebiete ändern. Dabei haben sie keinen Nerv für Grenzen. Sie brauchen die grenzenlose Weite der in die Unendlichkeit des Ogaden, seiner Wüsten, Steppen und Flußtäler ausgegossenen Landschaft.

Später höre ich im nordsomalischen Hargeisa, der Hauptstadt Somalilands, das gleiche. Der neue Präsident Egal war vom 21. bis 24.Juli zu einem regelrechten Staatsbesuch in Addis Abeba, dem ersten als Präsident der Republik Somaliland. Es war eine faktische Anerkennung. Man signierte Abkommen für den kleinen zollfreien Grenzverkehr der äthiopischen Händler, die jetzt freien Zugang zum nordsomalischen Hafen Berbera am Golf von Aden haben. Es ist für die Äthiopier gut, neben Assab am Roten Meer – das ja jetzt zu Eritrea gehört – eine Alternative zu haben.

Es ist wie ein Traum. Seit der Unabhängigkeit Somalias war Äthiopien der Todfeind der Somalis. Immer gab es an dieser schwerstbewachten Grenze Scharmützel und Kriege. Es gab im äthiopischen Ogaden eine „Westsomalische Befreiungsfront“, die von Mogadischu unterstützt wurde. Das ist jetzt vorbei. Die Transall aus Dschibuti nach Belet Huen konnte die Luftlinie nehmen – über äthiopisches Staatsgebiet. Früher, in den Jahren nach dem Ogadenkrieg von 1977, war das unmöglich.

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Wir kurven durch die belebten, marktschreierischen Straßen und Sträßchen von Belet Huen. Der kleine Handel boomt. Wir erfahren später, daß die Handelsroute in den nordöstlichen Hafen Bosasso wieder funktioniert, daß über das Tor Bosasso alle Gewürze und Waren Arabiens und der Welt dahinter nach Belet Huen kommen.

Es gibt in Belet Huen sogar einen Computer-Laden. Man könne, haben wir im Camp gehört, hier in dieser kirchenmausarmen Stadt sogar seinen Laptop reparieren lassen. Ein schöner Widerspruch. Und in der Tat: Wir finden den Laden. Es ist 16.20Uhr, also die Zeit, in der die Männer zum Kat-Kaufen versammelt sind.

Schließlich kommt der Besitzer, ein junger Intellektueller, der in Mogadischu geboren ist und dort studiert hat. Mr. Ali Ahmed Abdulle, 32 Jahre alt; er gibt Computertrainingskurse, die 100 US-Dollar kosten. Wie kann denn jemand in Belet Huen für sowas 100 Dollar ausgeben? Ganz einfach: Wie konnten wir dem Taxiunternehmer für zweieinhalb Stunden schon 50 US-Dollar zahlen?

Beim Herausfahren erfahren wir von dem Spediteur, der sagt, daß er nur noch die Bank vermißt in Belet Huen, um seine großen Gewinne aus dem LKW-Handel zwischen Belet Huen und Bosasso zu deponieren. Eine Ziege kostet 50 Dollar, ein Kamel 120. Blöd wie die Europäer sind, zahlen sie für vier Kilometer Taxifahrt den Preis für eine ganze Ziege.