: Jubel, Trubel, Defizit
Die vierte Leichtathletik-WM steigerte sich am Ende in einen kollektiven Freudentaumel, der alle Mißhelligkeiten vergessen ließ ■ Aus Stuttgart Cornelia Heim
Nach der Abschlußfeier fiel der Regen. Die vierte Leichtathletik- Weltmeisterschaft ist vorbei. Der Alltag hat die Schwaben wieder, Kehrwoche statt Sportwoche. „Be happy and pay the deficit“, das war der sportpolitische Kernsatz der Jubel-Trubel-Heiterkeit-Veranstaltung. Primo Nebiolo, Präsident des Internationalen Leichtathletik-Verbandes (IAAF), hatte ihn vor dem ersten Startschuß geäußert. Offiziell werden 13,1 Millionen Mark Miese eingeräumt für die Stadt Stuttgart, wer scharf nachrechnet kann jedoch auf bis zu 22 Millionen kommen.
Zehn Tage Sonneneinstrahlung und Festtagsstimmung allenthalben ließen jedoch die Gedanken ans Millionen-Defizit verschwinden. Der gemeinhin als eigenbrödlerisch geltende Schwabe war außer Rand und Band und ließ gar alle sprichwörtliche Sparsamkeit vermissen: Alle waren happy. Selbst Manfred Rommel, Oberbürgermeister jener Stadt, die das Millionenloch nun stopfen muß, sprach von einem „himmlischen Lohn für qualitative Arbeit.“ Am Tag nach der WM-Feier dürfte hingegen mancher Gemeinderat in Katerstimmung geraten sein: Die Kommunalpolitiker mußten über den Antrag befinden, die Kindergartengebühren um 30 Prozent zu erhöhen. Von happiness bei den sozial Schwachen keine Spur. Auch sie zahlen das Defizit.
Juan Antonio Samaranch, Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) war dafür des Lobes voll: „Das war eine typisch gute deutsche Organisation.“ Samaranch sprach von der „besten aller bisherigen vier Weltmeisterschaften“. Schließlich stand für ihn nicht nur rund um die Uhr eine Luxuslimousine aus dem Hause Mercedes bereit. Daimler-Benz-Chef Edzard Reuter und sein Sprecher Matthias Kleinert setzten auch sonst alles daran, dem IOC-Boss das Leben so angenehm wie möglich zu bereiten. In einem Monat wird in Monte Carlo darüber befunden, wer den Zuschlag für die Olympischen Spiele im Jahr 2.000 erhält. Und Samaranch bekräftigte höflich an die Adresse seiner großzügigen Gastgeber, daß „Stuttgart eine große Hilfe für Berlin“ gewesen sei.
Ob der 73jährige Katalane dabei an den Schweiß der Athleten gedacht haben mag, den er allenfalls von seiner „Royal Box“ mit dem Fernglas aus fließen sehen konnte, oder eher an die vielen Insignien der Macht, die sich bei höfisch anmutenden Zeremonien in hohen Funktionärskreisen entwickelt haben? Diese „Empfangskultur“ mit ihrem „stilisierten Leben“ erlebte Professor Helmut Digel, seit April Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), im Hauptberuf Sportsoziologe, zum ersten Mal: „Wir wurden von einer öffentlichen Situation in eine andere getragen. Man lebt in einer höchst kalten, künstlichen Welt.“
Während die Masse jeden Tag im Gottlieb-Daimler-Stadion in einen Freudentaumel versank. Dort feierten die Fans nicht nur die deutschen Sportler, sondern alle, besonders die Verlierer. Die jamaikanische Sprinterin Merlene Ottey nach ihrer Zielfoto-Niederlage gegen Gail Devers aus den USA mehr als nach ihrem 200-Meter-Sieg und jene, die noch ihre letzte Runde drehten, als die Stars schon auf die Ehrenrunde einbogen. Ein Massenphänomen, das Soziologen ins Grübeln geraten ließ. Das Publikum feierte nicht nur die Sportlerinnen und Sportler, sondern auch sich selbst. Stuttgart ist nicht Berlin. Und das vielgelobte Stuttgarter Publikum hat schnell begriffen, daß sich da etwas Außeralltägliches vor der eigenen Haustür, mitten in der Provinz, ereignete: „Wenn schon mal ebbes isch, na muaß ma au nagange.“ „La Ola“ und tosender Applaus wurden selbst zum Sport. Schließlich wurde auch dieser Wettbewerb täglich in den Medien lobend erwähnt. Und am Ende der Veranstaltung mit einem Fair-Play-Pokal bedacht.
Rund eine halbe Million strömte ins Stadion und genoß das Massenerlebnis Sport. Ein Häuflein Intellektueller stellte sich im Hegelhaus unterdessen die Frage, ob der Spitzensport nicht das Ende der Fahnenstange erreicht habe. Schließlich wehten am oberen Ende der Lichtmasten die Fähnchen der Sponsoren. Schließlich müsse, wer den Weg ins Stadion finden wolle, zuerst den Verlockungen der Buden entlang der sogenannten „Sponsorenmeile“ entgehen. Die athletischen Körper, um die es ginge, verschwänden unter Firmenlogos. Der Spitzensport sei zum Spritzensport degeneriert und den asketischen, jungfräulichen Athleten gebe es nicht mehr.
Auch in Stuttgart wurden Dopingsünder entdeckt. Manch andere Leistung erregte den Verdacht. So die der trippelnden Damen aus dem Reich der Mitte, von dem man weiß, daß bereits Anfang der achtziger Jahre eifrig probiert wurde, ob sich die chinesische Akupunktur nicht auch für den Sport nutzbar machen ließe. Pieksende Nadeln, um den Schmerz der übersäuerten Muskeln zu überlisten? Nicht nur Olympiasieger Dieter Baumann behauptete: „Die Chinesinnen liefen aufgezogen wie Roboter.“ Und die superschnellen Briten mit ihren Zuchtbullen-Bodies? Urwüchsige Kraft oder Kälbermast?
„Die Athleten, die zeigen wollen, daß sie clean sind, stehen unter einer Bringschuld“, sagt Werner Haas, Dopingbeauftragter für das nachweislich dopingfreie deutsche Zehnkampfteam. Nur wenn die Athleten durch ständige Offenlegung ihres Aufenthaltsortes in den Trainingsperioden unangemeldete Kontrollen ermöglichten, seien diese auch glaubwürdig. Haas: „Auch unter den Zehnkämpfern würde ich nur für unsere eigenen Athleten meine Hand dafür ins Feuer legen, daß sie sauber sind.“ Dem internationalen Zehnkampfteam sind bisher Kanada, Frankreich, Japan und die Schweiz beigetreten — der moralische Druck auf andere Nationen wächst.
„Wer dopt, betrügt sich selbst und andere“, sagt der neue DLV- Präsident, welcher den „Leistungs- Meyer“ abgelöst hat. Digel scheint der deutschen Leichtathletik eine neue Richtung geben zu wollen, wenn er das Zehnkampf-Team als „nachahmenswertes Modell“ darstellt. Andere internationale Verbände sehen das noch anders. Von Chancengleichheit längst noch keine Spur. Zwar hat die IAAF in diesem Jahr 630 Athleten zum Wasserlassen gebeten, doch nur 20 Kontrollen fanden ohne Voranmeldung statt. Doping mit der Geldspritze? Helmut Digel sieht Lichtblicke: Die Daumenschraube der Wirtschaft hat Wirkung gezeigt. Auch die Sponsoren wollten nicht länger mit unsauberen Athleten werben. „Über die Rezession könnte es einen Selbstreinigungsprozeß geben.“ Während der WM verlängerte der DLV seinen Vertrag mit seinem Hauptsponsor Mercedes Benz um drei Jahre. „Voraussetzung dafür war“, so sagte Mercedes-Vorstandsmitglied Jürgen Hubbert, „daß der DLV eine klare Aussage gegen das Doping gemacht hat.“
„Be happy and pay the deficit.“ Ein Ende der Fahnenstange ist nicht in Sicht. Helmut Digel prophezeit: „Die Schmarotzer werden immer mehr, solange der Sport das zentrale Ausdrucksmittel dieser Leistungsgesellschaft ist.“ Und Olympiasieger Dieter Baumann stimmt uns schon einmal auf die WM in zwei Jahren ein: „Göteborg wird alles tun, um Stuttgart noch zu überbieten.“
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