Stadt unter

Wie die Stadtärchäologie eine neue Sicht der Geschichte ergräbt. Ein Gespräch mit Sven Schütte  ■ Von Christoph Danelzik

Allem nostalgischen Rummel um das Mittelalter zum Trotz wurden lange Zeit in den meisten Städten die Überreste ihrer Geschichte vernachlässigt und zerstört. Dabei liegen unter Kellern und Straßen meterdicke Sedimentschichten ihrer Vergangenheit. Seit zwanzig Jahren bergen Archäologen Zeugnisse vergangener Alltagsgeschichte aus den Baugruben der Innenstädte – im Kampf mit den Baggern. Eine Wanderausstellung präsentiert gegenwärtig Arbeitsweisen und Ergebnisse einer jungen Wissenschaft („Stadtluft, Hirsebrei und Bettelmönch“, bis 25. Juli im Haus der Wirtschaft in Stuttgart, ab Herbst im Dresdner Landesmuseum für Vorgeschichte Sachsens. Das Kataloghandbuch kostet 52 DM). Sven Schütte baute von 1979 bis 1991 die Stadtarchäologie in Göttingen auf und leitet seither das Amt für archäologische Bodendenkmalpflege in Köln.

taz: Herr Schütte, Sie betreiben Geschichte von unten. Sind Sie Barfußhistoriker, Kanalarbeiter oder Schatzsucher?

Sven Schütte: Also, fangen wir mal hinten an. Was wir definitiv nicht sind und nicht sein wollen, sind Schatzsucher. Barfußhistoriker sind wir sicherlich, weil wir den Alltag im Mittelpunkt haben: also nicht Kaiser, Könige, Schätze und andere Zimelien, sondern die alltäglichsten Dinge.

Wie sah die mittelalterliche Stadt aus, und wie lebten die Menschen?

Man muß differenzieren. Köln war die größte Stadt im deutschen Sprachraum im Mittelalter. Das Leben in einer solchen Metropole ist beispielsweise mit dem Leben in Göttingen so gut vergleichbar wie heute New York und Hamburg. Um mit Huizinga zu sprechen, war die Nacht dunkler, die Kälte kälter und der Gestank stinkiger. Heute ist alles voller Straßenlaternen, damals gab es nur ein paar Funzeln. Auf der anderen Seite sind die Verhältnisse nicht so extrem anders. Es gab in Köln schon Häuser mit Wasserspülung im ersten Stock. Es war, wenn man nicht krank wurde und zu den wohlhabenden Schichten gehört hat, wohl nicht unangenehmer als heute. Wenn man das dritte Lebensjahr überstanden hatte, konnte man auch recht alt werden. Man hatte seine Würmer, das ist klar, das schützte aber auch vor Allergien. Die Ernährung war vielfältiger. Die hatten vierzig, sechzig Sorten Pflaumen, dagegen waren bestimmte Sachen nur bestimmten Schichten zugänglich: Feigen, Mandeln, Rosinen, Granatäpfel – also Mittelmeerprodukte. Die Ernährung war auch anders aufgebaut. Der einfache Mensch aß seine Grütze oder seinen Brei, bestimmte Sachen wurden stark gewürzt, um den Hautgout zu übertönen.

Die Menschen lebten damals sehr eng zusammen und in einfacheren Verhältnissen. Durch das Straßburger Münster lief ein Schweinepfad – es gab andere Ordnungsvorstellungen.

Sicherlich, nur kann ich dazu als Ärchäologe wenig sagen, weil sich davon archäologisch wenig niederschlägt. Aber ganz allgemein war das sicherlich auch kaum anders als heute. Das Personal hatte nur den Ausweg beispielsweise der Maienehe. Wenn es schön warm war, konnten sie draußen etwas veranstalten, ansonsten waren sie eher eingeschränkt. Es war durch die strengeren Vorschriften der Kirche anders. Aber etwa in Göttingen hatten fast alle Priester Kinder. So streng wurde das wohl nicht immer gesehen.

Liebe ist kein archäologisches Thema, weil sie sich nur in wenigen Fällen dinglich niederschlug?

Man könnte höchstens Präservative in den Kloaken finden. Das ist das Äußerste. Über Anzahl und Intensität läßt sich natürlich nichts mehr sagen.

Gibt es ein Problem der Dezenz, wenn Sie Gräber aufbrechen und Latrinen ausheben?

Für die Ärchäologen eigentlich nicht. Probleme damit haben manchmal religiöse Gruppen. Der katholische Landpfarrer wird schon darauf bestehen, daß die merowingischen Skelette, auch wenn sie sonstwie erhalten waren, wieder eingegraben werden, ebenso im protestantischen Bereich. Ich finde es auch besser, wenn sie wieder in den Boden kommen und nicht irgendwo im Regal liegen. Allerdings sollte man sie vorher schon angucken. Wir lernen ja mehr über uns selbst. Was Kloaken betrifft, sowieso nicht. Das stinkt zwar mörderisch, aber es ist ein wichtiges Quellenmaterial, und wir können daraus eine Menge ablesen, aus dem Leben der vergangenen Zeiten. Pietät oder Ekel dürfen dabei keine Rolle spielen. Ein Pestgrab gehört nicht gerade zu den schönen oder netten Funden.

Was bringt es, Geschichte zu ergraben? Wie verhält sich die Mittelalterarchäologie zur Nachbardisziplin Geschichte?

Man sieht heute, daß die Schriftquellen alleine die Welt der damaligen Zeit nicht widerspiegeln, weil sie nur aufschreiben, was damals für aufschreibenswert gehalten wurde – Rechtsgeschäfte, politische Vorgänge etc. Aber das, was so tagtäglich stattfindet, oder die Vorgänge, die man ganz einfach nicht aufschreiben wollte, die sind nicht drin, also die Geschichte mit den Würmern oder womit man sich den Hintern abgeputzt hat. Man muß wissen, was auf einem Grundstück los war, ob es geistlicher oder weltlicher Besitz war, wer da gewohnt hat usw. Erst dann kann man die Archäologie und umgekehrt die Schriftquellen mit Leben erfüllen.

Es hat sicher viel früher Wurzeln gegeben, aber die Methoden und die Inhalte der Mittelalter- bzw. Stadtarchäologie entwickelten sich erst in den letzten zwei Jahrzehnten; insofern ist man jetzt erst soweit, intensiver mit Historikern zusammenzuarbeiten. Vorher kannte man ja gar nicht die Sachkultur des Mittelalters und hat jetzt erst entdeckt, daß man viel mehr machen kann als das Auflisten der Töpfe oder das Angucken von Schmelzöfen für Metall, daß eben im Licht der Schriftquellen sehr viel mehr herauszuholen ist. Man muß auch sagen, daß das Interesse an den Städten gar nicht so groß gewesen ist. Hier in den westlichen Bundesländern ist nur in sehr wenigen Städten intensiv ausgegraben worden. Man hat sich in früheren Zeiten zumeist auf die Römer konzentriert und das Mittelalter auf der Müllkippe landen lassen oder alles gleich abgebaggert. In der DDR wurde erst nach dem Stadtjubiläum Berlins plötzlich entdeckt, daß das was ist. An Altstädten gab es ohnehin kein großes Interesse. Von einer systematischen Archäologie in den Städten kann erst nach der Wende die Rede sein. Wo ein Riesenbauboom die frißt, da kommt natürlich sehr viel heraus. Man hört dann auch gleich das Geschrei der Investoren, die Archäologie verhindere die Geschichte, zum Beispiel in Quedlinburg.

Vor zwanzig Jahren entstand auch die Alltagsgeschichte. Gibt es Zusammenhänge zwischen beider Anfänge?

Diese Betrachtungsweise ist sicherlich eine der späten Früchte der Studentenbewegung. Es ist klar, daß kulturgeschichtliche Betrachtungsweisen erst in den siebziger Jahren populär wurden, als eine Generation jüngerer, „nicht belasteter“ Historiker und Archäologen drankamen, die auch viel unbefangener an solche Dinge herangehen und solche Ansätze aus dem europäischen Ausland leichter übertragen konnte.

Wie entstand diese Disziplin, die sich mittlerweile in den Denkmalämtern eingenistet hat, und wie steht es mit den Universitäten?

Die Universitäten sind ein großes Defizit. Es gibt inzwischen auch ein paar Lehrstühle, aber eben sehr wenige. Die Universität ist ohnehin von der Praxis der Denkmalpflege, sowohl der Boden- wie der Baudenkmalpflege, meilenweit entfernt. Das ist überall in Europa so, was wir sehr bedauern, weil die Studenten diese Ausbildung brauchen. Bei uns ist die Forschung erst durch die spektakulären Funde in den Städten, wie sie neulich in Stuttgart („Stadtluft, Hirsebrei und Bettelmönch“) oder in der Ausstellung „Stadt im Wandel“ (Braunschweig 1985) präsentiert wurden, einer großen Öffentlichkeit zugänglich geworden. Man sah, daß nicht nur diese Gold-und-Silber-Ausstellungen möglich waren, „Ornamenta Ecclesiae“, Staufer, Salier oder wie auch immer sie heißen mögen. Diese Ausstellungen zeigten, daß es eine Vielzahl an Material gibt, das viel lebensnäher ist. Ein Ei aus einer Kloake hat zur Lebenswelt eines heutigen Menschen einen direkteren Bezug als ein noch so schöner Kelch, der sicher auch Teil derselben Welt gewesen ist.

Als ich studierte, galt es als unanständig, irgend etwas nach 1200 zu machen, weil es viel zu neu war. Die Grenze wurde dann Ende der siebziger Jahre ausgedehnt bis 1600. Das war die Schamgrenze, bis zu der man forschen konnte. Die ist natürlich genauso unsinnig wie die von 1200. Eine Kollegin von mir, Gabriele Isenberg, gräbt im Westfälischen ein Lager des sogenannten Dritten Reichs aus, weil keine Pläne dazu da sind und man wissen will, wie dieser Lagergrundriß ausgesehen hat. Es gibt weder Schriftquellen noch Augenzeugen, die sagen können, wie das war. Also hat die Archäologie überall da ihr Recht, wo Schrift-, Bildquellen und mündliche Zeugnisse versagen.

Sie beschäftigen sich nicht nur mit Tongeschirr und Schuhfragmenten, sondern auch mit Leichenteilen.In Stuttgart waren eingeschlagene Schädel zu sehen. Wird da die Archäologie zur Anthropologie?

Die Archäologie kann als Wissenschaft solche Dinge nicht mehr bewältigen. Wir nähern uns ja dem historischen Phänomen Stadt einerseits mit den Mitteln der Archäologie, andererseits mit einer Fülle von Nachbardisziplinen. Da ist die Anthropologie eine. Wir haben auch eine enge Zusammenarbeit mit den Paläontologen, Paläoethnobotanikern, Geologen, Mineralogen und Dendrochronologen, die uns die Datierung liefern für Hölzer, oder mit Kunsthistorikern und als wichtigstes, wie gesagt, die Schriftquellenhistoriker.