Schon wieder Kassel

■ Betr.: "Lustvoll die Kurve kriegen", taz vom 10.8.93

betr.: „Lustvoll die Kurve kriegen“, taz vom 10.8.93

[...] Zunächst von Olaf Cless: „In Kassel allerdings soll die SPD gerade wegen ihrer Verkehrsberuhigungspolitik eine böse Schlappe erlitten haben“, und dann die Antwort des – durchaus geschätzten – Micha Hilgers, daß eben diese Politik nur „besser verkauft“ werden müsse.

Verkaufen? Sollten wir nicht mit echter Partizipation, mit Ehrlichkeit, mit besseren Ideen und besserer Überzeugungskraft und vor allem widerspruchsfreier Planung einen breiten Konsens für eine wirklich neue Verkehrspolitik erreichen? Ist die Arroganz derer im Rathaus, die sachte gegen den Verkehrstrend steuern wollten und dabei plakativ mit dumpfen Sprüchen wie „Bus, Fuß, Bahn, Rad geht gut“ oder „Nur Dumme fahren zu schnell“ gleichzeitig ihre Geringschätzung der BürgerInnen als Planungssubjekt preisgaben, nicht ebenso unerträglich wie das Gebaren der Protagonisten einer heilen Autowelt?

In Kassel gab es keine autofeindliche Politik. Alle noch realistisch auszubauenden Straßen wurden bis 1993 fertiggestellt, die letzte (Kleine Westtangente) wird von aufrechten Naturschutzbehörden gegen alle Parteien noch mühsam aufgehalten, und auch die SPD wollte neue Tiefgaragen in der City.

Es gibt Ansätze für Verkehrsberuhigung, häufig dilettantisch geplant und ausgeführt sowie ohne reale Bürgerbeteiligung durchgesetzt. Die Radverkehrsinfrastruktur ist erbärmlich und jede Auszeichnung für „Fußgängerfeindlichkeit“ hoch berechtigt. Selbst die vor sechs Jahren von Christiane Thalgott (der damaligen Planungsdezernentin) schaffensfroh ins Visier genommenen 26 Fußgängertunnel sind unverändert in Betrieb.

Lichtblick ist der ÖPNV, besonders der Ausbau der Straßenbahn. Aber selbst die rollte bisher im Schneckentempo: So wurde die 1981 von Rot/Grün vereinbarte erste Streckenverlängerung erst im Herbst 1992 im ersten Abschnitt in Betrieb genommen.

Der bundesweit vorgeführte Generalverkehrsplan von 1990 sollte von allen Journalisten erst einmal gelesen und dann die Praxis überprüft werden. Autofeindlich? Selbst seine scheinbar vornehmste Zielvorgabe: „Es wird angestrebt, bis zum Jahr 2000 eine Reduzierung des Anteils des Autoverkehrs in Kassel an allen Wegen um zirka 20 Prozent gegenüber 1988 schrittweise zu erreichen“, ist klug formuliert und läßt einen gleichbleibenden Kfz-Verkehr in absoluten Mengen, zum Beispiel bei Zunahme der Wege, der Einpendler- und Durchgangsverkehre und wachsender Bevölkerung (was der Fall ist) durchaus zu.

Andere theoretische Ansätze des GVP gehen durchaus in die richtige Richtung. In der Tagespolitik wurden diese Vorgaben aber permanent konterkariert.

Die Abwahl einer selbstherrlichen SPD nach über vier Jahrzehnten an der Macht erfordert mehr Analyse als der platte Hinweis auf die „Verkehrspolitik“. Die taz sollte nicht auch an der doppelten Legende stricken: die von der ökologischen Verkehrspolitik in Kassel und – als quasi negatives Abziehbild dieser Propaganda – nun die bundesweit gestreute Legende vom Scheitern einer ebensolchen Politik am Bürgerwillen. Wolfgang Nickel, Kassel