Wundermittel oder Betrug?

Pflanzliche Heilmittel haben Hochkonjunktur in Deutschland / Eine wissenschaftlich anerkannte Beweisführung über ihre Wirksamkeit ist oftmals nicht möglich – trotzdem wirken sie  ■ Von Walter Saller

Ob Ginkgo oder Ginseng, Kamille oder Knoblauch, Rauschpfeffer und Roßkastanie – bei pflanzlichen Heilmitteln fühlen sich alle berufen: Esoteriker und Wunderheiler, Quacksalber und Scharlatane, Hinz und Kunz. Und Hausfrauen. Wie die österreichische Kräuterheilige Maria Treben, deren schlichtes Rezeptbuch „Gesundheit aus der Apotheke Gottes“ zum Bestseller wurde: vier Millionen Gesamtauflage, meistgelesenes Buch in der Ex-DDR. „Pflanzen“, philosophiert die himmlische Oberapothekerin, „können immer nur heilen, niemals schaden.“ Eine alpenländisch eigensinnige, im Zweifelsfall freilich giftige Ansicht.

Ob aus Unbehagen über kalte High-Tech- und Hochleistungsmedizin oder aus Furcht vor der chemischen Keule: Pflanzenheilmittel haben Hochkonjunktur. Mehr als die Hälfte aller Deutschen bekunden starkes Interesse an pflanzlichen Arzneimitteln (Phytopharmaka). Etwa 80 Prozent aller innerhalb der EG angebotenen Pflanzendrogen gehen über die Ladentheken deutscher Apotheken, Reformhäuser und Drogerien: Abkochungen und Aufgüsse, Tinkturen und Trockenextrakte, Kaltwasserauszüge und ätherische Öle. Meist werden sie in Selbstmeditation verwendet: zur Linderung leichter Erkrankungen oder chronischer Leiden. Kaum bei akuten Beschwerden. Was aber ist dran an rein pflanzlichen Arzneimitteln? Die Meinungen sind kontrovers, die Standpunkte unvereinbar: Den einen sind pflanzliche Arzneien wahre Wundermittel: natürlich, unschädlich, heilend. Für die anderen indes sind sie allenfalls „unsaubere“ Placebos: belanglos, unerheblich, irreführend.

Andere Begleitumstände heizen den Glaubenskrieg zusätzlich an: Phytopharmaka sind häufig mit esoterisch-mystischen Lebenskonzepten vermengt. Und auch Kriminelle machen mit Kräutern Kasse. Die Grenze zwischen naivem Heilversprechen und glattem Beschiß ist fließend. Vor allem bei Schlankheits- und Asthmamitteln, Tonika und Aphrodisiaka. So werden immer wieder exotische „Bio-Arzneien“ mit Wunderwirkung angeboten, die freilich nur auf dem Beipackzettel „rein pflanzlich“ sind. „Swasahar“, ein indisches Asthma-Wundermittel, angeblich aus der ayurvedischen Medizin, enthielt Prednisolon, einen synthetischen Cortison-Abkömmling. In „Chuifong-Tonkuwan“ aus Hongkong-Produktion, einer pflanzlichen Arznei gegen Gicht und Rheuma, entdeckten Pharmakologen Dexamethason (ebenfalls ein synthetisches Corticoid) und Indometacin (ein schmerz- und entzündungshemmender Wirkstoff). Und in einem bis in die Mitte der 60er Jahre angebotenen sensationell „wirkungsvollen Schlankheitsmittel“, das bei „nur einmaliger Einnahme“ zum Erfolg führen sollte, fand sich gar der Kopf eines lebendigen Bandwurms.

Jenseits von homöopathischen und anthroposophischen Vorstellungen, fernab von missionarischen Befürwortern und inquisitorischen Gegnern sind Phytopharmaka aber vor allem eins: Teil der naturwissenschaftlich orientierten Medizin. Auch wenn sie vor Jahrzehnten von der orthodoxen Schulmedizin abgekoppelt wurden. Erst ab Mitte des vorigen Jahrhunderts setzten sich Zug um Zug synthetische Arzneimittel durch. Doch es waren immer wieder alte Naturheilmittel, in denen medizinisch brisante Inhaltsstoffe entdeckt wurden: Atropin in der Tollkirsche zur Entspannung der glatten Muskulatur, Digitalisglykoside im Fingerhut zur Herzstärkung, Morphin im Schlafmohn zur Schmerzbehandlung.

Längst zählen diese isolierten Monosubstanzen nicht mehr zu den pflanzlichen Arzneien. Nach dem Arzneimittelgesetz von 1976 sind Phytopharmaka ausschließlich aus Pflanzen und Pflanzenteilen, Pflanzeninhaltsstoffen oder Beeren nach galenischer Zubereitung hergestellt. Sie sind „Vielstoffgemische“, zusammengesetzt aus Dutzenden oder gar Hunderten von Komponenten. Und damit geben sie den Pharmakologen manch harte Nuß auf: Präzise Meßwerte über Vielstoffgemische sind selten, penible Wirksamkeitsnachweise schwierig. Pflanzen wirken oft als Ganzes, ihre Wirkungen beruhen auf vielen Einzelstoffen. Überdies ist bei vielen Pflanzen unklar, welche Substanz oder welches Ensemble von Substanzen wesentlich für die erwünschte Wirkung verantwortlich ist. Die Pharmakokinetik von Vielstoffgemischen aufzuzeigen, nachzuweisen, wie sie im Körper wo, wann und warum reagieren, in welche Wechselwirkungen sie treten, ob und wie sie wirken – dieses Puzzle zu lösen, ist Aufgabe der modernen Pharmakologie. Und dabei steht sie erst am Anfang.

Nicht nur die Planzen-Pharmakologie ist den Kinderschuhen kaum entlaufen. Auch klinisch- therapeutisch orientierte und einem modernen Standard genügende Forschungsarbeiten sind selten. In der öffentlichen und fachinternen Debatte wird daher der Nachweis von Wirkungen häufig mit dem Beweis therapeutischer Wirksamkeit verwechselt. Verstärkt wird diese Tendenz der Phytotherapie, Forschungsergebnisse überzubewerten und experimentell gefundene Wirkungen als stichhaltige Therapiebegründungen auszugeben, durch ihre apologetische Situation: ständiger wissenschaftlicher und öffentlicher Rechtfertigungszwang. Und zwei Phänomene haben schon die sumerischen Ärzte und ihre Nachfolger über die Jahrtausende genarrt: Spontanheilung und Placeboeffekt. Beide komplizieren das medizinische Urteil, denn sie treten unlogisch und sprunghaft auf.

Doch unbestreitbar: Die Phytotherapie hat einiges zu bieten. Forschungen haben gezeigt, daß etliche pflanzliche Substanzgemische pharmakologisch und klinisch klar belegte Heilwirkungen aufweisen. Die Schulmedizin vertritt zwar meist immer noch eine absteigende Rangordnung von „harten“ zu „weichen“ Daten. Oft freilich sind gerade die weichen Daten – die Selbsteinschätzung des Therapieerfolges durch den Patienten – weit aussagekräftiger als die harten wie biochemische oder radiologische Befunde. Und bei der Beurteilung des Therapieerfolges durch den Kranken schneidet die Phytotherapie erstaunlich gut ab: breites Wirkungsspektrum, geringe Nebenwirkungen und therapeutische Geborgenheit bescheinigen ihr die überwiegende Mehrzahl aller Patienten. Vor allem der Symbolgehalt der Pflanzenheilkunde, der entscheidend zum therapeutischen Gebrauchswert beitragen kann, wird von der Schulmedizin weitgehend unterschätzt.

Eine gesicherte medizinische Zukunft werden pflanzliche Arzneimittel aber nur dann haben, wenn sie – wie synthetische Mittel auch – pharmakologisch-klinisch ausreichend untersucht und qualitativ weitgehend standardisiert werden. Denn Kamille ist nicht unbedingt identisch mit Kamille, Salbei nicht mit Salbei: Es kommt auf geographische Herkunft, Anbaubedingungen, Umweltbelastungen, Pflanzengewinnung und Bearbeitung an. Eine Qualitätssicherung durch ähnlich wirkende Referenzstoffe wie bei chemischen Monosubstanzen ist bei pflanzlichen Arzneimitteln allerdings kaum denkbar. Wie sollte man auch Johanniskraut mit Kamille vergleichen? Immer wieder wurde eine Standardisierung von Phytopharmaka auf ein bestimmtes Stoffgemisch versucht. Oftmals vergeblich. Denn auch bei gleichem Gehalt an „Standard“ können die anderen, ebenfalls therapeutisch wichtigen Bestandteile qualitativ und quantitativ unterschiedlich sein. Freilich, auch zahlreiche „normale“ Arzneimittel sind bezüglich ihrer dosisabhängigen Wirksamkeit nur unvollständig untersucht.

Die moderne Pflanzenheilkunde steht erst am Anfang: Von den gut 250.000 verschiedenen Arten höherer Pflanzen sind gerade einmal 30.000 ansatzweise untersucht. Behandlungen nur aufgrund von „jahrhundertelanger Erfahrung“ aber rücken die Pflanzenheilkunde leicht in fatale Nähe zur himmlischen Oberapothekerin aus Österreich. Und dort gehört sie nicht hin. Ihr Platz ist in der wissenschaftlich orientierten Medizin.