Die russische Vergangenheit leuchtet

Nicht nur für Viktor Alexandrowitsch endet die russische Geschichte im Jahr 1917. Auf der Suche nach nationaler Identität verklären immer mehr Russen die Herrschaft der Zaren  ■ Von Klaus-Helge Donath

Viktor Alexandrowitsch ächzt unter der Last seiner beiden randvollen Wassereimer. Er ist Ende siebzig. Tag für Tag schleppt er sie mehrere hundert Meter weit vom einzigen Brunnen in der Umgebung zu seiner Holzkate. Diese liegt dicht an der Mauer des schneeweißen Kreml von Rostow Welikij. Es ist Rußlands eindrucksvollster Kreml. Im 12. Jahrhundert erhielt die Stadt ihren Beinamen „Welikij“ – Groß – eine Auszeichnung, die unter den Städten der Rus nur noch das nördliche Nowgorod führen durfte. Rostow gehört zu den ältesten Städten Rußlands. Siedlungen der finno- ugrischen Merjanen sind schon für das 7. Jahrhundert nachgewiesen... Viktor erzählt unermüdlich. Er ist stolz auf seine Stadt. Er spricht, als gebe er streng gehütete Geheimnisse preis. 1917 hört für ihn die Geschichte auf.

Der Kommunismus – Elektrifizierung plus Sowjetmacht – hat es versäumt, die alten Siedlungen der Stadt mit Wasserleitungen zu versehen. Dafür verpesteten Industrieabwässer den großen Nerosee, an dessen Ufer Viktor wohnt. Aufs primitivste diktiert die jüngere Geschichte seinen Tagesablauf. Schon vor der Revolution galt Rostow als ein Zentrum der Textilindustrie. Viktor kennt eine Menge Details aus dem Leben der örtlichen Industriellendynastie. In seinen Erinnerungen wird sie zu einem großzügigen Mäzen. Wenn er seine Geschichten erzählt, schwingt Bedauern mit und die sichere Gewißheit: Mit diesen Industriellen ginge es allen heute besser. Das örtliche Gymnasium und Straßen tragen schon wieder ihre Namen.

Geschichte in Rußland – das sind Geschichten von Wallfahrten und Heldenverehrung. Auch die postsowjetische Ära bewegt sich innerhalb dieses Rasters. Mit dem Abtritt des Kommunismus verschied auch das Interesse an der unmittelbaren Vergangenheit. Die ehemals informelle Bewegung „Memorial“ aus der Gorbatschow- Ära, die Verbrechen der Stalinzeit anprangerte, ist als eine gesellschaftliche Kraft aus dem öffentlichen Leben verschwunden. Es gibt sie noch. Aber nur in kleinen Zirkeln werkelt sie weiter. Sie befaßt sich mit konkretem Unrecht; eine systematische Untersuchung des Totalitarismus in seiner sowjetischen Spielart konnte sie bisher nicht anstoßen.

Mühselig ist der Rückgriff auf Geschichte. Die 70 Sowjetjahre werden gänzlich getilgt, als wäre Rußland 1917 eingefroren worden. Im Umkehrschluß gewinnt alles Vorrevolutionäre leuchtende Vorbildhaftigkeit. Dem Mäzenatentum kommt dabei eine Schlüsselposition zu. Es erfüllt gleich mehrere Funktionen. Die Erinnerung an Industrielle und Kaufleute soll das humanitäre Wirken des Kapitals belegen, ohne dessen Selbstlosigkeit Künstler wie der Maler Serow oder der Sänger Schaljapin nicht zu ihrer Größe gefunden hätten. Literaten und Künstler sind für die meisten Russen immer noch eine Quelle, aus der sie – gerade nach einer leidvollen Geschichte – die Überzeugung von ihrer geistig-kulturellen Überlegenheit gegenüber anderen Nationen schöpfen. Manchmal bis an den Rand der Lächerlichkeit.

Die Mystifizierung schlägt noch weitere Kreise. Die Mäzene dienen im nachhinein als Beweis für die Existenz eines bereits entwickelten Kapitalismus im zaristischen Rußland. Die Medien lassen keine Gelegenheit ungenutzt, an das Mäzenatentum zu erinnern. Gleichzeitig wollen sie natürlich die Neureichen des aufbrechenden Rußlands an ihre Pflichten gegenüber der „großen russischen“ Kultur gemahnen. Es scheint tatsächlich zu fruchten. Literarturpreise und Stiftungen schießen wie Pilze aus dem Boden, als müßte das in Rußland immer noch anrüchige Busineß tatsächlich widerlegen, daß es mit Kultur nichts am Hut habe. Die Verquickung von Identitätsnotstand und Suche schafft einen günstigen Boden für einen verklärten Umgang mit Geschichte.

Ein ganzheitliches Geschichtsbild, das sich auf eine konsistente Ideologie stützt, hat sich noch nicht aufgetan. Obwohl es Versuche gibt, die Leerstellen aufzufüllen. Die russisch-orthodoxe Kirche bietet sich offen an. Sie hätte das russische Volk immer Glaubensfreiheit und nationale Eintracht gelehrt. Der suchende Blick zurück hat der Kirche Auftrieb gegeben und sie erstaunlicherweise mit quälenden Fragen über die jüngste Vergangenheit verschont. Sie wird mit dem vorrevolutionären Rußland identifiziert. Ihr verstaubtes Erscheinungsbild und ihre Hilflosigkeit, Probleme der Gegenwart zu erfassen, macht sie jedoch nur für einen verschwindenden Teil der Bevölkerung zum Hoffnungsträger.

Die Verherrlichung des zaristischen Rußlands folgt dem gleichen Muster. Zar Nikolaus II. und seine Familie werden heroisiert, während der Zarismus den Charakter eines suprahistorischen Phänomens annimmt. Ohne Oktoberrevolution wäre dem Zarismus noch eine Zukunft beschieden gewesen. Exemplarisch belegt das der populäre Dokumentarfilm „Das Rußland, das wir verloren haben“. Zwischenzeitlich rückten auch Leute wie Stolypin ins Zentrum öffentlichen Interesses. Man war geneigt, in ihnen Vorbilder für heute zu sehen. Als Ministerpräsident erwirkte Stolypin nach der Revolution von 1905 vom Zaren gemäßigte Reformen, um die Monarchie als Ganzes zu retten.

Mittlerweile ist die Popularität solcher Figuren wieder am Abklingen. Die Begeisterung entstammte der ersten Suche nach Anknüpfungspunkten. Seriöse Kreise haben sich sehr schnell von diesem Adaptationszwang freigemacht. Dennoch, die Hinrichtungsstätte der Zarenfamilie in Jekaterinburg ist heute eine Wallfahrtsstatt. Zum Gedenken errichtetete man sogar eine Holzkirche, die rund um die Uhr betreut wird.

Während sich die Beschäftigung mit der Monarchie im Nostalgischen erschöpft, nimmt die Wiederbelebung des Kosakentums eine politische Dimension an. Die Kosaken waren ehemals entlaufene Leibeigene, die sich vor der Kontrolle des zentralistischen Staates in die Steppen flüchteten. Sie wurden zu Räubern und Kriegern.

Der Moskauer Staat betrachtete das Kosakentum zunächst als ein anarchisches Element. Nach und nach schlossen sich ihm auch entlaufene Bauern an. Dadurch wuchs gleichzeitig der südliche Grenzraum Rußlands. Moskau war bestrebt, den Aktionsradius der Kosaken einzuengen, obwohl es andererseits auf deren Hilfe nicht verzichten konnte und wollte. Im Osten und Süden des Landes fehlten die natürlichen Grenzen. Hier übernahmen die Kosaken die Befestigung und Sicherung der Grenzmark. Moskau gewährte ihnen Autonomie und lange Zeit auch Steuerfreiheit. – Das Kosakentum erlebt eine zweifelhafte Renaissance in diesen Regionen. Schwarzbärtige Männer mit Schafspelzmützen in abgewetzten Uniformen dreschen laut und unbeholfen martialisch dumme Phrasen. Ihre Welt besteht aus Befehl und Gehorsam, ihre Hierarchie ist kriegerisch. Sie verkörpern das Fortleben eines tumben Imperialismus, der sich mit dem Zerfall der UdSSR nicht abfinden will. Doch trotz ihres militärischen Auftretens und aggressiven Nationalismus stellen sie keine wirklich ernsthafte Gefahr dar. Sie sind Feierabendkrieger, die in ihrer seligen Vergangenheit schwelgen. Männer, die Waffen lieben, weil ihnen die Worte fehlen.

„Das Studium der russischen Geschichte verdirbt die besten Geister“, schrieb Professor Timofej Granowskij im 19. Jahrhundert abschätzig. Heute ist es die Zukunft, die die Menschen von der Historie fernhält. Über Folklore kommt sie in Rußland zur Zeit nicht hinaus.