■ Morihiro Hosokawa bekennt sich zu Japans Kriegsschuld – dies im Rahmen einer wirtschaftspolitischen Perspektive
: Kehrtwende zu Asien

Die Japaner trauen ihren fünf Sinnen nicht mehr. Da steht ihr Regierungschef vor dem Parlament und sagt „Invasion“, wenn er von den japanischen Eroberungskriegen im Zweiten Weltkrieg spricht. Er nennt die Zeit „Kolonialherrschaft“, in der ihre Väter über Korea, Taiwan und China befahlen. Die zwei Begriffe, vom neuen Premierminister Morihiro Hosokawa nunmehr zur offiziellen Vergangenheitserklärung eingesetzt, reichen völlig, um Japans eigene Geschichtsversion des 20. Jahrhunderts ihrer Grundlage zu entziehen. Japan, vielleicht die modernste Wirtschaftsmacht der Welt, erwartet einen Vergangenheitsschock.

Kaum faßbare Lügenmärchen werden den Japanern seit 48 Jahren aufgetischt. Schon die Potsdamer Erklärung von 1945, die Japans bedingungslose Kapitulation forderte, gelangte nie in eine populäre japanische Übersetzung. Statt dessen einigten sich amerikanische Besatzer und japanische Bürokraten nach dem Krieg im Sprachgebrauch auf „Kriegsende“ und „Truppenstationierung“ anstelle von „Niederlage“ und „Besatzung“. Noch heute sprechen japanische Schulbücher vom „Truppenbesuch“ der japanischen Armeen in China. Statt Klarheit zu schaffen, verschleierten die Japaner ihre Position in der Weltgeschichte. Intellektuelle sprachen von asiatischem Schamgefühl, wo von Schuld die Rede sein mußte. Schon 1964 beschwor der einflußreiche Historiker Fusao Hayashi das Schicksal des westlichen Imperialismus, welches Japan die angebliche historische Bürde auferlegte, Rest-Asien vom Kolonialismus zu befreien. Japans eigene Kolonialrolle erwähnten von da ab nur noch Sozialisten und Kommunisten.

Statt einen asiatischen Holocaust-Film drehte die halbstaatliche Fernsehgesellschaft NHK 1976 den Fernsehhit „Das Leben und Sterben des Kriegsverbrechers Koki Hirota“, ein sentimentales Drama über ein Fehlurteil während der japanischen Kriegsverbrecherprozesse. Währenddessen blieb der Völkermord japanischer Truppen 1937 im chinesischen Nanking, eine der grausamsten Kriegshandlungen des Zweiten Weltkriegs überhaupt, nicht nur an Schulen unerwähnt. Dokumentarszenen aus Nanking, die in dem Erfolgsfilm „Der letzte Kaiser“ von Bernardo Bertolucci eingeblendet waren, mußten bei der japanischen Version herausgeschnitten werden. Statt dessen dürfen bislang rechtsradikale Gruppen ihre Auffassungen von US-Tyrannei und japanischen Freiheitskriegen an Millionen ungestört in Wort und Schrift verbreiten. Sie vertreiben Hitlers Hakenkreuz auch in Japan als beliebten Aufkleber unter ihresgleichen.

Wenn nun der Regierungschef die Invasion und die Kolonialherrschaft beim Namen nennt, setzte dies vor allem die Einsicht voraus, daß Japan mit der auf dem Inselmythos begründeten Ideologie von der gesellschaftlichen und historischen Einzigartigkeit in der heutigen Welt scheitern muß. Nur gegenüber dem Westen konnte dieser Anspruch bewahrt werden. Japans Zukunft im 21. Jahrhundert aber liegt in Asien. China und Südostasien bieten die neuen Weltmärkte, die allein noch den Wohlstand mehren können. Sie zu erobern verlangte nach einer moralischen Kehrtwende. Denn vor den Verbrechen des Völkermordes sind alle Menschen gleich: Nicht einmal die unendlich große konfuzianische Duldsamkeit so vieler Asiaten über ein halbes Jahrhundert ließ ihn vergessen. Doch ein letzter Zweifel bleibt: Haben sich die Japaner wirklich gebessert? Georg Blume, Tokio