Im Osten hat sich's schon vor der Lehre ausgelernt

Für Zehntausende von Jugendlichen im Osten Deutschlands, die wenige Tage vor Beginn des neuen Lehrjahres noch keinen Ausbildungsplatz haben, ist zumindest in diesem Jahr der Zug abgefahren. Dem „Bewerberüberhang“ bleibt kaum etwas anderes übrig, als in den Westen abzuwandern oder zu Hause rumzuhängen.

„Keule, Keule“, antwortet Christian auf die Frage, ob er noch auf der Suche nach einer Lehrstelle sei, und zeigt auf sich und seinen Kumpel Rocco. Das soll wohl soviel heißen wie: Bei uns ist alles gebongt. Die beiden haben durch die Vermittlung des Jugendamtes der Stadt Frankfurt/Oder einen Platz im überbetrieblichen Ausbildungszentrum der Bauwirtschaft bekommen. Hier, in der Hildebrandtstraße, findet sowohl die reguläre Ausbildung der Bauwirtschaft statt als auch eine vom Arbeitsamt geförderte Ausbildung für benachteiligte Jugendliche. Die anderen drei aus der Clique haben noch nichts. Marcel, ein Rotschopf mit einem breiten, von Sommersprossen übersäten Gesicht, hält eine Bierdose in der Hand. Er würde auch gerne „in die Hildebrandtstraße“ gehen, „wenn ich da was kriege“, blinzelt er ein wenig unsicher. Wortkarg gibt sich auch Brian; er hat am Montag einen Termin auf dem Arbeitsamt. Und Kenny würde zwar gerne von der Schule abgehen, um eine Lehrstelle hat er sich aber noch nicht richtig gekümmert.

Christian mit den blondgefärbten Haaren und der Stupsnase hat Realschulabschluß. Eigentlich wollte er Maurer werden – aber da hat er nichts gekriegt, also lernt er jetzt Maler. Allerdings hat er auch nur eine einzige Bewerbung geschrieben, dann kam das Angebot, in der Hildebrandtstraße unterzukommen. Eine ganze Reihe seiner Klassenkameraden ist in den Westen abgewandert, viele pendeln ins 60 Kilometer entfernte Berlin. „Fürs Geld würde ich auch gehen“, sagt er, und das klingt ein wenig neidisch. Eine Tante von ihm lebt im Westen, da hätte er wohnen können. Nur die Lehrstelle, da „weiß ich nicht, wie ich da rankomme“. Auf die Frage, was er macht, wenn er keine Lehrstelle findet, sagt Brian lachend: „Dann werd' ich Assi.“ Worauf Christian gleich einwirft: „Ist aber nicht doll, als Assi kaum Geld zu haben.“

Wer jetzt noch keine Lehrstelle hat, für den ist der Zug abgefahren, zumindest in diesem Jahr. Ende Juli waren in Frankfurt/Oder noch 1.335 Jugendliche ohne Ausbildungsplatz. Zu vergeben sind jedoch nur noch 394 Lehrstellen. Besonders schwierig ist die Situation für Mädchen und für Jugendliche ohne Hauptschulabschluß. Aber auch für Jugendliche mit Hauptschulabschluß wird es eng auf dem Ausbildungsmarkt. Nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit haben sich insgesamt 136.000 ostdeutsche Jugendliche bei den Arbeitsämtern gemeldet, weil sie einen Ausbildungsplatz suchen. Ende Juli hatten in den neuen Bundesländern einschließlich Ostberlins 39.600 Jugendliche noch keine Lehrstelle gefunden. Unbesetzt waren zu diesem Zeitpunkt nur noch 17.500 Lehrstellen.

Dem „Bewerberüberhang“ – wie es im Amtsdeutsch heißt – bleibt nichts übrig, als entweder nach Westdeutschland auszuweichen, weiter zur Schule zu gehen oder zu Hause rumzuhängen. „Die Jugendlichen machen die Erfahrung, daß sie nichts wert sind“, beklagt die junge Sozialarbeiterin vom Jugendamt deren Schicksal. „Wenn die drei Jahre lang arbeitslos sind, können die nur noch ein Bierglas heben.“

Im Vergleich zum Vorjahr hat sich das Problem verschärft: zum einen ist die Zahl der Schulabgänger höher als 1992, zum anderen ist bei den Betrieben ein gewisser Sättigungsgrad erreicht. Viele, die gegenwärtig Lehrlinge ausbilden, sehen sich erst wieder in der Lage, weitere zu nehmen, wenn diese ausgelernt haben. Da nützen auch die Prämien zwischen 4.000 und 8.000 Mark kaum etwas, die die östlichen Bundesländer für die Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze bereitgestellt haben. In Brandenburg gingen bislang nur 1.955 Anträge ein. Die Gelder hätten für 6.000 Förderfälle gereicht.

Abwanderung führt zu Facharbeitermangel

Auch die Abwanderung in den Westen ist keine Lösung. Darin sind sich Landesregierungen, Gewerkschafter und Unternehmer einig. Sie prophezeien, daß der Osten sonst in einigen Jahren an Facharbeitermangel leiden wird. Zudem haben ostdeutsche Jugendliche im Westen nicht immer die besten Erfahrungen gemacht.

Die Hälfte derjenigen, die nach Westdeutschland gegangen sind, brechen die Lehre ab, so der Erfahrungswert von Birgit Arendt, Berufsberaterin des Arbeitsamtes Frankfurt/Oder. Den Jüngeren mache Heimweh zu schaffen. Andere warfen das Handtuch, weil sie von ihren Lehrherren nur ausgenutzt wurden. Ein weiterer Grund sei, daß vielen trotz Berufsbildungsbeihilfe die finanzielle Belastung auf Dauer zu hoch ist.

10.000 ostdeutsche Jugendliche wandern pro Jahr nach Westdeutschland ab, weitere 10.000 pendeln zwischen Wohnort und Ausbildungsplatz. „Die Masse kommt nicht zurück, da soll man sich nichts vormachen“, meint Birgit Arendt. Verschärft hat sich die Ausbildungsmisere vor allem, weil die Fördermöglichkeit für überbetriebliche Ausbildung nach dem Arbeitsförderungsgesetz Ende '92 ausgelaufen ist. Damit ließ sich in den letzten Jahren ein Großteil der leer ausgegangenen BewerberInnen auffangen. Zwar haben die Gewerkschaften die schlechtere Bezahlung der überbetrieblichen Ausbildung ebenso bemängelt wie die häufig schlechte Qualität der kurzfristig zusätzlich geschaffenen Ausbildungsplätze. Doch dies ist immer noch besser als nichts.

Deshalb hoffen die Landesregierungen darauf, daß die Bundesregierung in letzter Minute doch noch ein Ersatzprogramm zur Förderung überbetrieblicher Ausbildung auflegt. 20.000 Mark würde ein überbetrieblicher Ausbildungsplatz pro Jahr kosten. Die ostdeutschen Unternehmensverbände verhandeln gegenwärtig über ein auf drei Jahre angelegtes Förderprogramm für 15.000 Lehrstellen pro Jahr, das 900 Millionen Mark kosten soll. Die Entscheidung darüber steht noch aus. Nachdem ein Sprecher des Bildungsministeriums im Juni gegenüber der taz erklärt hatte, man wolle die Vermittlungszahlen von Ende Juli abwarten, hieß es nun, man wolle die Zahlen von Ende August abwarten.

Immerhin hat Bundesjugendministerin Angela Merkel (CDU) Mitte August angekündigt, daß im September ein Sonderprogramm für die Lehrlingsausbildung im Osten anlaufen soll. Ohne ein solches Programm werde es nicht gehen, sah sie ein. Es sei aber „noch nicht raus“, wie es aussehe – und das zwei Wochen vor Beginn des Lehrjahres. Dorothee Winden,

Frankfurt/Oder