„Sie haben sich durch Politik strafbar gemacht“

■ Im Prozeß gegen die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates fordert die Staatsanwaltschaft hohe Haftstrafen zwischen acht und zwölf Jahren

Berlin (taz) – Im Totschlagprozeß gegen drei frühere DDR-Spitzenpolitiker wurden gestern hohe Haftstrafen zwischen acht und zwölf Jahren beantragt. Nach dem Willen der Anklage soll der ehemalige Verteidigungsminister Heinz Keßler zu zwölf, sein Stellvertreter Fritz Streletz zu zehn und der ehemalige Suhler SED-Bezirkschef Hans Albrecht zu acht Jahren Freiheitsentzug verurteilt werden.

Zu Beginn des Plädoyers hatte Oberstaatsanwalt Bernhard Jahntz erneut den Vorwurf eines politischen Prozesses zurückgewiesen. „Politisch“ sei der Prozeß nur insofern, als sich die angeklagten „Politiker durch Politik strafbar gemacht“ hätten. Denn den drei Mitgliedern des Nationalen Verteidigungsrates der DDR (NVR) sei „individuelle strafrechtliche Schuld“ in den sieben verhandelten Todesfällen an der innerdeutschen Grenze nachzuweisen.

Ohne Pointierung und wahrnehmbares Engagement verlas Oberstaatsanwalt Jahnts sein mehrstündiges Plädoyer, das über weite Strecken mit der Beweisführung der Anklageschrift übereinstimmte. Das Kernstück seiner Argumentation bestand in der Auffassung, die Angeklagten hätten sich in ihrer Funktion als Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates der vorsätzlichen gemeinschaftlichen Tötung von DDR- Flüchtlingen schuldig gemacht. Alle drei, so der Staatsanwalt, hätten als Mitglieder des obersten Führungsorgans der Landesverteidigung die Beschlüsse zur Grenzsicherung insbesondere zum Schußwaffengebrauch und zur Installation von Minen mitgetragen. Auch die berüchtigte Anweisung Honeckers, wonach gegen Grenzverletzer „nach wie vor von der Schußwaffe rücksichtslos Gebrauch gemacht werden muß“, sei von den Angeklagten ausdrücklich gebilligt worden.

Als Schutzbehauptung wertete die Staatsanwaltschaft die Einlassungen der Angeklagten, die DDR sei in Fragen der Grenzsicherung nicht souverän gewesen, die Entscheidungen seien von der Sowjetunion diktiert worden. In diesem Zusammenhang verwies Jahntz insbesondere auf die Zeugenaussagen der ehemaligen sowjetischen Botschafter Falin und Kwizinski, die im Prozeß die Behauptung eines sowjetischen Befehls verneint hatten. Es sei erwiesen, so Jahntz, daß die DDR ausreichen souverän gewesen sei, um sich einem solchen Befehl zu widersetzen.

Auch ein quasi befehlsmäßiges Abhängigkeitsverhältnis des NVR vom Politbüro der SED sah Jahntz nicht gegeben. Es habe „keine unwiderstehlichen Befehle“ des Politbüros an den NVR gegeben, aufgrund derer sich die Angeklagten von ihrer Mitverantwortung entlasten könnten. Vielmehr habe der NVR laut den im Prozeß verlesenen Dokumenten „die grundsätzlichen Beschlüsse zur Grenzsicherung gefaßt“. Unter diese fielen auch die Schußwaffengebrauchsbestimmungen und die Installation von Erd- und Splitterminen. Auch die Behauptung der Angeklagten, die DDR habe ihre Grenze wie alle anderen souveränen Staaten nach außen gesichert, wies Jahntz zurück. Schon allein die Bewaffnung der Grenztruppen sowie die Anlage des Grenzsicherungssystems bewiesen hinreichend, daß es sich hierbei um eine Sicherung der Grenze gegenüber den eigenen Bürgern und nicht gegenüber dem Westen gehandelt habe. eis