Jetzt lernen die Menschen, Wolken zu malen

■ Prof. Heinz-Otto Peitgen, Mathematiker und Chaosforscher, über den Glanz der Chaostheorie und das Elend der Computerkunst

Heinz-Otto Peitgen (48) ist einer der Pioniere der Chaosforschung, jenes neueren Zweiges im Wissenschaftsbetrieb also, der sich vorgenommen hat, eine Geometrie des Bachgeriesels und des Windes zu entwickeln. Diese sogenannte „fraktale Geometrie“ geht davon aus, daß alles Chaos aus einfacheren, selbstähnlichen Strukturen hervorgeht wie der Blumenkohl aus den Röschen. In der Tat kann man mit fraktalen Formeln vom Computer verblüffend „rauhe“ Bilder von Gebirgen, Bäumen oder Wolken erzeugen lassen; es handelt sich quasi um eine Technologie der Natürlichkeit. Die Frage ist, was für die ganze Kultur draus folgt. Die taz besuchte Peitgen in dieser Angelegenheit an der Bremer Uni, wo er das „Institut für Dynamische Systeme“ leitet.

Die Chaostheorie hat immer mal wieder ziemlich kulturrevolutionär behauptet, sie würde die Kunst mit der Wissenschaft versöhnen. Davon sieht man noch recht wenig.

Heinz-Otto Peitgen: Naja, es ist immerhin möglich, natürliche Strukturen und Oberflächen automatisch zu simulieren, und zwar mit einer erstaunlichen Ähnlichkeit, keine Frage. Das wird auch schon überall gemacht.

Ja, wer zuhause am Computer mal simulierte Autorennen spielt, rast jetzt über Straßen, die wie Straßen aussehen. Und sonst?

Die Sachen mit den natürlichen Oberflächen, die sind vielleicht nicht wirklich wichtig. Die erhöhen ja nur den Realismusgrad dessen, was der Rechner herstellen kann. In diesem Sinne wird da die fraktale Geometrie für rauhe, natürlich scheinende Dinge genau so selbstverständlich angewendet wie die euklidische Schulgeometrie für räumliche Konstruktionen. Aber das ist auch schon alles. Keine tiefe Geschichte. Man kann das jetzt halt: von fraktalen Formeln ausgehend die Borke vom Baum darstellen.

Das muß doch den Künstler frappieren.

Ja, als das vor zehn Jahren so populär wurde mit den fraktalen Bildern, hat die Kunst äußerst empfindlich reagiert. Die Bilder, die wir hier in Bremen damals machten, diese Computergrafiken, die seien völlig unkünstlerisch, hieß es.

Vielleicht zu Recht?

Ja klar, das Künstlerische war gar nicht unsere Absicht. Interessant ist aber, daß inzwischen viele Kunstschaffende sich mit Fraktalen beschäftigt haben.

Zu welchem Ende?

Um zu verstehen, was das alles bedeutet, was man damit machen machen kann. Und indem sie das versucht haben, haben sie ein Stück von dieser Mathematik verinnerlicht - und müssen, ob sie wollen oder nicht, darauf Bezug nehmen. Das ist ungefähr so wie in der Renaissance, als die Perspektive entdeckt und studiert wurde: Das Wissen, wie eine Perspektive zu konstruieren sei, hat in alle Bilder Einzug gehalten. Nun sage ich nicht, daß uns in den nächsten Jahren in allen Bildern und Skulpturen fraktale Elemente erwarten, das wäre naiv.

Woran soll man denn überhaupt das Walten der Fraktale erkennen?

Das ist sicherlich nicht so augenfällig wie der räumliche Effekt; aber auch von dem sehen Sie ja nur das Ergebnis und nicht die komplexen, wenn auch vielleicht unbewußten Rechnungen, die dazu geführt haben. Wenn nun einer die Fraktale drin hat, dann sehen Sie natürlich nicht „das Fraktal“, aber wahrscheinlich hat bei ihm die Bearbeitung der Oberflächen eine andere Qualität. Nehmen wir mal die Landschaftsmalerei: Da haben die Leute durch die Jahrhunderte mit teilweise ungeheurer Qualität die Komplexität von Pflanzen verarbeitet. Bäume zum Beispiel mitsamt ihrer Rinde und dem Laubwerk waren irgendwann so gut dargestellt, daß sie eine gewisse Richtigkeit hatten: Man hatte die Art, wie sie organisiert waren, erfaßt. Ganz anders aber die Wolken. Schauen Sie mal hin. Die Wolken sind fast immer ganz schlecht gemacht.

Eher Farbschleier als Wolken.

Ja. Wolken sind nämlich wirklich ganz besonders schwer. Das hat damit zu tun, daß das geometrisch Komplexe an einer Wolke viel schwerer zu fassen ist als etwa das einer Baumrinde. Da sehe ich, wie‘s gemacht ist, ich kann den Baum anfassen, seine Konstruktion verfolgen. Bei einer Wolke kann ich das nicht.

Noch schlechter sind die Wasseroberflächen weggekommen.

Das wäre ein anderes Beispiel. Ich denke nun, daß die Architektur des Wassers oder der Wolke sich einem Maler, der um die Fraktale weiß, heute eher erschließt. Wenn man das Auge dafür geschärft hat, wie Komplexität eigentlich verschlüsselt ist, dann hat das Folgen. Die Menschen werden in gewisser Weise lernen, Wolken zu malen.

Gibt es da schon Schlaue, die sich die Wolken vom Computer fraktal errechnen lassen, um sich die Plagerei mit dem Wattebausch zu sparen? Oder wirkt das eher mittelbar?

Das wirkt eher mittelbar. Und, wie gesagt, in die verschiedensten Richtungen. Das künstlerische Bewußtsein reflektiert seine Möglichkeiten, aber nicht auf eine offensichtliche Weise. So wie ja auch keiner auf die Idee käme, sowas bescheuertes wie eine Mandelbrot-Menge zu malen.

Was halten Sie denn von der Computerkunst im engeren Sinn?

Ich habe zwar viel mit Computern zu tun, ich habe viele solcher Bilder selber gemacht, ja ganze Ausstellungen bestückt, aber ich empfinde gegenüber computergenerierten Bildern in der Kunst doch eine gewisse Kälte. Sie interessieren mich einfach nicht, so wenig wie mich Computermusik interessiert. Wenn man uns früher vorgeworfen hat, unseren Bildern fehle eine gewisse Menschlichkeit, kam mir das fast unsachlich vor. Heute verstehe ich das; ich sehe es selber so. Da fehlt alles, was die Kunst ausmacht: das starke Zeugnis einer Persönlichkeit, die sich zu einem bestimmten Moment aufs Werk überträgt, die Aura, die Identität. Das hat die Computergrafik nicht.

Heinz-Otto Peitgen vor einer fraktalen GrafikFoto: bus

Ist das nicht ein Problem der Geläufigkeit? Wird es nicht verschwinden, wenn man mit dem Computer so direkt hantieren kann wie mit dem Pinsel?

Schon möglich. Aber solange Rechner so unendlich begrenzt sind, habe ich da nicht sehr viel Hoffnung. Nehmen wir nur die Musik: Was gibt es da alles an Sounds und Effekten! Und jede erdenkliche Partitur kann mit größter Präzision abgespielt werden. Der ideale Interpret, eigentlich der Traum jedes Komponisten. Bloß witzigerweise fühlt sich kaum einer davon angezogen. Diese minimalen Abweichungen der Klavierspielerhand von der Partitur, die Eigenheit des Flügels, des Raumes, all diese Fluktuationen, dieser kleine Spalt, der offen bleibt zwischen dem idealen Konstrukt der Partitur und dem Ereignis, in diesem Spalt sitzt doch das Leben. Es ist die ganze Hybris der Wissenschaft, das als statistische Schwankung abzutun. Nein, es ist wesentlich, und keiner weiß bisher, wie man das mit Computer machen kann.

Und wenn demnächst doch?

Dann frage ich: Warum? Wieso brauchen wir‘s denn unbedingt? Nur weil das Gerät da ist?

Weil das Gerät keine Ruhe gibt, ehe es ausgereizt ist. Ist nicht die ganze Chaostheorie aus der Spielerei mit dem Computer entstanden und aus dem Eindruck der Bilder, die man sich mit seiner Hilfe von Formeln machen kann?

Schon, aber die Bedeutung dieser Bilder wird weithin überschätzt. Sie ist eine eher oberflächliche.

Es gibt Kritiker, die Ihnen vorwerfen, Sie hätten sonst gar nicht viel zu bieten

Das behaupten nicht mehr sehr viele. Welche Bilder wären denn so aufregend, daß sie die weithin anhaltende Faszination erklären könnten? Diese künstlerisch wertlosen ornamentalen Spielereien ganz sicher nicht. Nein, das allgemeine Interesse an der Chaostheorie, gerade in der Wissenschaft, wächst stetig an, und bestimmt nicht wegen der Bilder, sondern aus ziemlich guten Gründen.

Die wären?

Sehen Sie, Chaos und Fraktale haben, bis in die Mathematik hinein, eine neue Interdisziplinarität quer durch die Wissenschaften vorangebracht - indem sie es ermöglichen, den Schleier über der allgemeinen Komplexität ein bißchen zu lüften, mit ihr umzugehen, sie zu messen, zu beschreiben, zu verstehen. Jede Wissenschaft ist ja stark daran interessiert; man mußte die Komplexität nur oft ausklammern, weil die Methoden, sie zu erfassen, noch nicht weit genug waren.

Und was hat der kleine Steuerzahler davon?

Die Physik zum Beispiel versucht seit Jahrhunderten zu verstehen, was eigentlich turbulente Strömungen von Gasen oder von Flüssigkeiten sind. Da ist man jetzt einen großen Schritt weiter. Oder nehmen wir das, was wir hier in Bremen gerade machen: medizinische Bildverarbeitung. Man hat medizinische Aufnahmen vom Körper, beispielsweise eine Mammographie in der Krebsvorsorge, und es bleibt, wie fast immer, ein gewisser Zweifel. Im Grunde sehen da zehn Diagnostiker zehn verschiedene Bilder, der eine mehr dies, der andere mehr das. Alle zehn ziehen jeweils ihre Schlüsse daraus. Es macht also viel Sinn, die Komplexität, die hier zu sehen ist, mathematisch zu artikulieren, zu beschreiben, damit man das Bild fundierter beurteilen kann. Bisher konnte man das gar nicht, mit Chaos und Fraktalen kann man's jetzt schon ein bißchen. Und das Faszinierende ist: Was wir über Turbulenzen gelernt haben, können wir bei den medizinischen Bildern sehr gut brauchen. Offensichtlich greift die Natur, wenn sie Komplexität erzeugt, doch immer in die selbe Trickkiste. Fragen: Manfred Dworschak