■ 3. Jahrestag des „Beitrittsbeschlusses“ der Volkskammer – ein Datum, das nicht die glücklichsten Erinnerungen weckt
: Wir alle, Regierende und Regierte, hatten kein Vertrauen in uns selbst

Am 23. August, nachts um halb drei, beschloß die Volkskammer der DDR den Beitritt nach Artikel 23 Grundgesetz zur Bundesrepublik für den 3. Oktober 1990.

Der Beschluß wurde mit ziemlich genau 80 Prozent der abgegebenen Stimmen angenommen. Ich selbst gehörte zur Minderheit, die mit „nein“ stimmte. Ich will den Grund dafür noch einmal wiederholen: Ich konnte einem verbindlichen Beitrittstermin nicht zustimmen, weil der Einigungsvertrag noch nicht fertig war. Man unterschreibt keinen Vertrag, bevor das Kleingedruckte ausgehandelt ist.

Ich bin bis heute der Überzeugung, richtig gehandelt zu haben. Der Einigungsvertrag ist mit heißer Nadel gestrickt worden und hat eine Reihe verheerend nachteiliger Folgen gehabt, die uns alle, Ost wie West, teuer zu stehen gekommen sind.

Mein Grundvorwurf an uns als Volkskammer ist, daß wir vor der Aufgabe zurückgeschreckt sind, das Chaos selbst aufzuräumen, das der Kollaps der DDR hinterlassen hatte. Wir haben diesen Sack von Problemen statt dessen ungeordnet dem vereinigten Deutschland vor die Füße geworfen und sind abgedankt. Das war eindeutig nicht der Auftrag der Wähler vom 18. März, denn vor dieser Wahl hatten sich alle späteren Regierungsparteien (mit Ausnahme der kleinen DSU) für eine volle Legislaturperiode beworben und eine mehrjährige Übergangsperiode angekündigt. Ich kann bei Bedarf öffentliche Erklärungen dieses Inhalts von Ministern der CDU und SPD zitieren. Sie versprachen einen geordneten, mehrjährigen Übergang und hatten sich ein knappes halbes Jahr später unter die Rockschöße nach Bonn geflüchtet.

So wurde verpaßt, was einst beim Beitritt des kleinen Saarlandes sehr wohl berücksichtigt worden war: die Bildung eines Sondergebietes auch nach der staatlichen Vereinigung, in dem eine wohlüberlegte Anpassung der Lebens- und Wirtschaftsbedingungen in geeigneten Zeiträumen stattfinden konnte. Sogar der Franc wurde einige Zeit als Währung beibehalten, um Schockwirkungen zu vermeiden. Das alles nach zehn Jahren Zugehörigkeit zu Frankreich anstatt wie 1990 nach zwei vollen Generationen zu einer grundverschiedenen, feindlichen Gesellschaftsordnung! Da war wohl 1956 mehr Weisheit vorhanden als 1990!

Wir hätten genauso handeln können. Die völkerrechtliche Vereinigung mußte nicht aufgeschoben werden, und wie wir den Übergang im Inneren gestalteten, wäre unsere innerdeutsche Aufgabe gewesen, da hätte niemand mehr hineinreden können. Das hätte den Westen bedeutend billiger kommen können und hätte dem Osten den Schock des völligen Bruchs der Lebenswelt erspart, der als Reaktion die neuen mentalen Gräben zwischen Ost und West hervorgebracht hat, die jetzt die innere Einheit gefährden. Die Milliardentransfers, die den Staatshaushalt der Bundesrepublik aufs schwerste belasten, hätten anstatt zum Auffangen der kollabierenden Sozialsysteme und zur Subvention der Liquidität der zusammenbrechenden Wirtschaft sinnvoller für technologisch zukunftsträchtige und ökologisch vernünftige Investitionen verwendet werden können.

Gegen diese meine Überzeugung werden gewöhnlich mehrere Einwände laut: 1. Es ging wirtschaftlich nicht, und 2. ging es politisch nicht. Dazu kommt meist noch als Anmerkung, daß 3. niemand ahnen konnte, wie marode die DDR- Wirtschaft war und daß 4. der Ostblock sich kurz darauf auflösen würde. Und 5. schließlich, daß Volkskammer und Regierung nicht kompetent genug waren, um eine solche Aufgabe zu lösen.

Wie weit eine Reform der Gesellschaft und Wirtschaft aus eigener Kraft möglich war, kann niemand beantworten. Schlimmer als in Prag oder Budapest (ohne Hilfe eines großen Bruders) wäre es in Ost-Berlin auch nicht geworden, meine ich, aber bitte, das ist reine Spekulation, es wurde nicht versucht. Die Abwanderung aus den neuen Bundesländern haben wir auch so nicht verhindert. Der wahre Grund für unser Scheitern ist vielmehr: Wir alle, Bevölkerung und gewählte Vertreter, hatten mehrheitlich kein wirkliches Vertrauen in uns selbst, in unsere Fähigkeit, die unvermeidlichen gesellschaftlichen Reibungen durchzustehen, und überließen den Augiasstall lieber gleich dem großen Bruder. Wir haben es mit mehr als dreiviertel Mehrheit so beschlossen, unter dem Druck der Bevölkerung freilich, die ihre Meinung auch kurz danach in zwei Wahlen (Landtage, Bundestag) eindeutig bestätigt hat. So dürfen wir uns heute nicht beschweren, wenn wir die schmerzhafte Operation nicht beeinflussen können, wenn wir zur Seite geschoben wurden, wenn wir z.B. die Eigentumsregelungen anzunehmen haben, obwohl wir sehr wohl hätten feststellen können, daß sie nicht funktionieren konnten. Oder daß wir die Deindustrialisierung als ordoliberale Optimalentscheidung übergestülpt bekamen. Niemand darf sich wundern, wenn die Kumpel eines Betriebes die hungerstreikenden Kumpel eines anderen Betriebes auffordern, endlich von ihrem Starrsinn abzulassen und Schließung und Entschädigung ihres Betriebes anzunehmen. Wir sind in einer harten Wettbewerbsgesellschaft.

Damals hatten wir die Souveränität, unser Schicksal selbst zu bestimmen; heue müssen wir Bedingungen, Gleichgewichte und Mehrheitsverhältnisse akzeptieren, wie sie sich im größeren Deutschland einstellen. Im heißen Sommer 1990 haben wir uns dafür eindeutig entschieden, in einer wirren Marathonsitzung, populistische Banalitäten austauschend, anstatt die wirklich dringenden Aufgaben anzupacken. Der 23. August 1990 gehört nicht zu meinen schönsten Erinnerungen. Jens Reich

Der Autor, Arzt, Wissenschaftler und Publizist, gehörte zu den Gründungsmitgliedern des „Neuen Forum“, war Abgeordneter der Volkskammer und ist Kandidat einer überparteilichen Initiative für das Amt des Bundespräsidenten