Moskauer Koffer voller „Kompromat“

■ In Rußland dreht sich das Karussell der Korruptionsvorwürfe weiter

Moskau (taz) – Am 20.August änderte nach dreistündigem Flug in Richtung Mittelmeer eine Maschine mit dem russischen Minister für Außenhandel Sergej Glasjew an Bord den Kurs. Vereitelt wurde somit die Unterzeichnung einer ganzen Reihe von Schuldner-Abkommen in Mosambik, Tunesien und Sambia – Glasjew, der letzte Minister aus der Mannschaft von Ex-Premier Gajdar, gab sein Amt auf. Die „Wende“ veranlaßt hatte Vizepremier Wladimir Schumejko. Begründung: die „komplizierte innenpolitische Situation in Südafrika“. Tatsächlich ging es um die innenpolitische Situation in Rußland. Die gleicht inzwischen einem gigantischen Ringen, angesichts dessen solche internationalen Unannehmlichkeiten nur läppische Zwischenfälle sind.

Als letzter Akteur in diesem Schauspiel war am Montag wieder einmal Vizepräsident Alexander Ruzkoi mit einer Pressekonferenz am Zuge: Er äußerte sich über die „Zwischeninstitutionelle Kommission zum Kampf gegen Korruption“ mit Justizminister Kalmykow und dem Rechtsanwalt Andrej Makarow an der Spitze. Ruzkoi bezeichnete sie als „Mini-NKWD“ (Vorläuferorganisation des KGB). Für ihr Wirken machte er Präsident Jelzin verantwortlich. Von weitem winkte er dabei mit einem Dokument, das die Zugehörigkeit von Advokat Makarow zum „Ministerium für Staatssicherheit“ beweisen soll (die Nachfolgeorganisation des KGB).

Der wohlgenährte Jungjurist hatte am 17.August schwere Vorwürfe gegen den Vizepräsidenten und Generalstaatsanwalt Stepankow erhoben. Beiläufig versprach er noch, eine Tonkassette mit einem Gesprächsmitschnitt zu präsentieren, auf der Stepankow angeblich Pläne zu seiner – Makarows – physischer Beseitigung erörtert. Justizminister Kalmykow unterstrich bei dem Hearing besonders die Rolle der Firma „Seabeko“, die eine Schlüsselrolle bei der Ausfuhr der KPdSU-Gelder gespielt habe. Eine Verbindung zwischen Seabeko und Ruzkois Stiftung „Wiedergeburt“ wurde auf der Pressekonferenz angedeutet.

Gleich mehrere Flugzeuge kommen ins Spiel, wenn man sich mit dem Gesprächspartner des Generalstaatsanwalts auf der inkriminierten Kassette näher beschäftigt. Der heute 29jährige Geheimdienstagent Dmitrij Jakubowski wurde in seinem Leben in erstaunlich kurzer Frist vom Leutnant zum General ernannt und dann wieder degradiert – zum Flüchtling in die Schweiz, wo er als Resident der Firma Seabeko arbeitete. Nach dem Putsch spielte er auf Grund alter Beziehungen eine glorreiche Zwischenrolle im russischen Weißen Haus. Kurz darauf wieder in Ungnade gefallen, zog er sich erneut nach Kanada und in die Schweiz zurück. Von dort kehrte er diesen Sommer unter speziellem Schutz zweimal auf den Moskauer Flughafen Scheremetjewo zurück – angeblich mit Koffern kompromittierenden Materials, kurz Kompromat genannt, gegen alle und jeden. Veranlaßt hatten diese beiden Heimatreisen zum erstenmal Generalstaatsanwalt Stepankow, zum zweitenmal Makarow. Beiden diente er mit Informationen.

Das Karussell der Korruptions- Beschuldigungen hatte im Frühjahr vor dem Parlament Vizepräsident Ruzkoi eröffnet, ebenfalls mit „Koffern“, diesmal voller Kompromat gegen den Vorsitzenden des Föderativen-Informations- Zentrums (FIZ), Michail Poltoranin, und Vizepremier Schumejko.

Beschuldigt wurden die beiden jedoch auch von anderer Seite. Gerüchten zufolge soll Innenminister Barannikow Präsident Jelzin Beweise für „Vergehen“ Poltoranins und Schumejkos vorgelegt haben. Zwei Stunden später war der Minister „wegen unethischen Verhaltens“ entlassen. Jelzin soll gewußt haben, daß Barannikows Behörde auch Ruzkois „Koffer“ füllte. Dieses Doppelspiel konnte Jelzin nicht ertragen.

Während Ruzkoi und Schumejko wechselweise aufeinander zielen, reibt sich als lachender Dritter inzwischen der von allen Seiten beschuldigte Michail Poltoranin die Hände. Aus seinem offiziell vom Parlament als nichtexistent erklärten FIZ-Amt konnte er wieder auf den Sessel des Informationsministers zurückkehren. Den räumte Ende letzter Woche Michail Fedotow, nachdem seine Büroräume in der Nacht unter Beschuß geraten waren – diesmal mit echter Munition.

Die inzwischen über die Agentur Interfax an die Öffentlichkeit gedrungenen Fetzen des Gespräches zwischen Stepankow und Jakubowski lassen nicht unbedingt auf eine Mordabsicht gegen Makarow schließen. Deutlich wird, daß Jakubowski Stepankow zu irgend etwas provozieren will. Nun wird gerätselt, wer ganz buchstäblich hinter dem Doppelagenten gestanden hat. Schon wird spekuliert, ob Makarow an das Tonband gelangt ist, weil es in seiner Anwesenheit aufgenommen wurde. Sicher bei der ganzen Angelegenheit ist, daß es hier längst nicht mehr um die Aufklärung von Korruptionsfällen aus moralischen Erwägungen geht, sondern um einen politischen Schlagabtausch. So sind auch die Hintergründe für das Wendemanöver von Glasjews Flugzeug bisher alles andere als durchsichtig.

Ein bißchen erinnerte dies an die Verhältnisse in der KPdSU. War doch mindestens ein eigener Korruptionsfall für die Anwärter auf höchste Posten über Jahrzehnte eine unabdingbare Voraussetzung für den Aufstieg. Schließlich wäre ein nichtkorruptes Mitglied der Restnomenklatura viel zu gefährlich gewesen. Und was dem Mächtigen das Konto in der Schweiz, das war dem kleinen Manne schon eh und je die nichtregistrierte eigene Ziege auf dem russischen Dorf. Noch heute erfahren alle Bürger Rußlands am eigenen Leibe die schizophrene Mischung unerfüllbarer Gesetzesvorschriften mit wechselnden Waren- Defiziten, die sie alle zu potentiellen Straftätern macht. „Es geht schon gar nicht mehr darum, ob du ein Demokrat bist oder ein Konservativer, ein Weißer oder Roter“, warnt in der Komsomolskaja Prawda Kommentator Wladimir Mammontow alle Politiker: „Dir werden einfach jene nicht mehr glauben, die die Reformen unterstützen, die am Weißen Haus im August Wache gestanden haben und die so gerne an den guten Politiker geglaubt hätten.“ Barbara Kerneck