Nicht alles ist schlecht

Rußland: Der neu entstehende Privatsektor prägt das Bild der Städte / Handel größtenteils privat  ■ Aus Rußland Donata Riedel

Der typische Westinvestor wartet ab. Schließlich empfiehlt das seine Regierung. „So richtig werden die Wirtschaftsreformen erst in Gang kommen, wenn das Parlament neu gewählt ist“, sagt auch Wolfgang Kartte, Privatisierungsbeauftragter der deutschen Bundesregierung für Rußland. „Unübersichtlich“ ist noch das freundlichste Wort, das Wirtschaftsexperten aus kapitalistischen Ländern zur Lage im ehemaligen Reich des Bösen einfällt. Geläufiger ist ihnen auch zwei Jahre nach dem verhinderten August-Putsch die Rede vom Zusammenbruch der Planwirtschaft.

Doch während die westliche Welt gebannt auf Moskaus politische Bühne starrt, auf der auch nach Jelzins siegreichem Referendum das Drama „Wie Ruslan Chasbulatow und der Oberste Sowjet den Reformprozeß behindern“ weiterläuft, verlassen immer mehr RussInnen den Zuschauerraum, um ihren Geschäften nachzugehen. Und das in so großer Zahl, daß sich das Bild der Städte von Moskau bis nach Wladiwostok bereits deutlich verändert hat.

Vor reichlich einem Jahr öffneten in Moskau die ersten privaten Kioske. In den verwitterten Buden der einstigen „Sowjetpresse“ oder in selbstgezimmerten Holzverschlägen wurden Waren höchst undurchsichtiger Herkunft zu ebenso undurchschaubaren Preisen feilgeboten. Heute sind die meisten Moskauer Kioske neue Metallcontainer mit großen Fenstern, in denen das Sortiment übersichtlich präsentiert wird. Neben den Metro-Stationen, wo vor einem Jahr Obst und Gemüse ausschließlich aus Kisten ambulant verkauft wurden, haben sich heute an vielen Stellen feste Märkte mit überdachten Ständen etabliert. Mehr als die Hälfte aller Ladengeschäfte sind inzwischen privatisiert, die einst leeren Regale gefüllt.

Die Preise in Kiosken, Geschäften und auf den Märkten, vor Jahresfrist nach nicht nachvollziehbaren Kriterien zwischen Dumping und Wucher schwankend, haben ein Stadium der Logik erreicht: Importierte West-Schokoriegel sind teurer als russische Schokolade, frisches Obst kostet mehr als überreifes, Fleisch mehr als Gemüse, fertige Kleidung mehr als Stoff. Selbst westlicher Luxus, wie Parfüm aus Frankreich, wird nicht mehr ausschließlich für Devisen angeboten.

Trotz der hohen Inflationsrate zwischen 20 und 30 Prozent monatlich zeigt sich der Rubelkurs erstaunlich stabil. Seit Juni bekommen Tauschwillige konstant 1.000 Rubel für den Dollar. Niemand mehr muß in Moskau Geld beim Straßenhändler mit der Plastiktüte mitten im Gedränge des Kaufhauses GUM tauschen, weil der Bank gerade die Geldscheine ausgegangen sind. Überall in Moskau stehen heute Geldwechsel-Busse der neu entstandenen kommerziellen Banken, und mindestens 90 Prozent der Wechsel-Kunden sind Russen.

33.000 Kleinbetriebe sind bereits im Jahr 1992 an Privateigentümer versteigert worden. Die sogenannte „Kleine Privatisierung“ von Einzelhandelsgeschäften, der Gastronomie und anderen kleinen Betrieben bis 100 Beschäftigte will der zuständige Minister Anatoli Tschubais bis Ende des Jahres abgeschlossen haben. Über den Privatisierungsbeginn für die großen Kombinate wird gerade zwischen Jelzin, der entsprechende Dekrete erlassen hat, und dem Chasbulatow-Parlament, das diese wieder aufhebt, heftig gerungen.

Die britische Wirtschaftszeitung Financial Times sieht vor diesem Hintergrund zunächst eine „duale Wirtschaft“ entstehen: geteilt in einen noch für längere Zeit staatlich kontrollierten Industriesektor und einen privaten Handels- und Dienstleistungssektor.

Die staatlich kontrollierte Seite der Wirtschaft produziert dabei all jene Daten, die Stillstand oder Rückgang der russischen Wirtschaft signalisieren:

– Rückgang der Produktion um 20 Prozent allein im vergangenen Jahr und Rückgang des Außenhandels um 30 Prozent;

– Hyperinflation durch immer neue Staatskredite und Subventionen an die Kombinate, dadurch auch ein Haushaltsdefizit, das nach den Beschlüssen des Parlaments 1993 22 Prozent des Bruttosozialprodukts betragen wird;

– Verhinderung von Pleiten und offener Arbeitslosigkeit, damit auch einer Umstrukturierung der Industrie;

– allein 1992 ein Absinken der Kaufkraft durchschnittlicher Löhne auf die Hälfte des Vorjahreswertes;

– Energiepreise, die noch immer nur ein Drittel des Weltmarktpreises betragen und so wenig zum sparsameren Verbrauch anregen.

Offizielle Statistiken ignorieren jedoch völlig den neuen Privatsektor, der überall in Rußland im Entstehen begriffen ist. Wer ein Auto hat, nutzt dieses wenigstens ab und zu als Taxi. Wer einen Kiosk- oder Ladenbesitzer kennt, hilft in der Freizeit schon mal ein paar bezahlte Stunden aus. Rentnerinnen bessern ihre kärgliche Pension durch den Verkauf von Selbstgebackenem auf. Und die Leiter der Fremdsprachen-Institute an den Unis schauen nicht mehr tatenlos zu, wie die besten Nachwuchsdozenten als Übersetzer von Westfirmen abgeworben werden.

So betreibt Professorin Galina Glinych, die in der fernöstlichen Stadt Chabarowsk die Fremdsprachenfakultät leitet, außerhalb der Seminarzeiten mit ihren KollegInnen in den Uni-Räumen ein Übersetzungsbüro. „Damit ist allen gedient“, sagt sie. „Die Dozenten bleiben, verdienen aber trotzdem zusätzliches Geld. Und die Studenten können weiter unterrichtet werden.“ Drei Stunden Übersetzen brächten schließlich ein Professoren-Monatsgehalt ein. Die Universität aber biete, wie alle staatlichen Betriebe, zusätzlich den Vorteil der sozialen Sicherheit, wie medizinische Versorgung und Kindergartenplätze.

Im Umkehrschluß bedeutet der Verlust des staatlichen Arbeitsplatzes gleichzeitig den der sozialen Sicherheit, weil es in Rußland keine Kranken-, Arbeitslosen- oder Rentenversicherungen gibt. Daß Betriebsdirektoren Massenentlassungen scheuen, muß nicht böser Wille reformfeindlicher Altkommunisten sein, es kann auch vom sozialen Verantwortungsbewußtsein zeugen.

Wie viele Russen in Zweit- und Nebenjobs wieviel verdienen, ist nicht statistisch erfaßt, läßt sich also allenfalls nach den Angaben der Leute schätzen. Viele RussInnen sagen, daß ein durchschnittliches Monatseinkommen zwischen 50.000 und 70.000 Rubel liege, während der Durchschnittslohn in den Staatsbetrieben 30.000 bis 35.000 Rubel beträgt.

Das offizielle Existenzminimum wird mit knapp 20.000 Rubel angegeben – womit offiziell bestätigt ist, was jede Rentnerin und jeder Rentner allzugut weiß: die Pension, 13.000 Rubel, reicht zum Leben nicht aus. Wer keine zahlungsfähigen und -willigen Kinder hat, wird im hohen Alter zum Bettler.