Hauptstadtmusik
: Vom Täuschen der Sinne

■ Biergartenmusik auf einem Cello und Weltmusik mit zwölf Cellisten

Draußen im Lande grassiert immer noch das sommerliche Musikfestspiel, dabei ist doch die Festspiel-Idee als solche längst aufgebraucht. Wagneropern beispielsweise gibt es heutzutage überall ganz normal im Angebot jedes besseren Stadttheaters. Die Deutsche Oper Berlin startete vorgestern in die neue Saison mit ihrem nach wie vor höchst beachtlichen Repertoire-„Ring“ (Teil 1: Das Rheingold) – und die Hauptstadtmusikberichterstatterin, vom kurzen Ausflug ins Grüne, genauer gesagt, vom sächsisch-thüringischen MDR-Musiksommer (Slogan: „Drei Länder, ein Klang“) glücklich zurück, streckt erleichtert die Beine unter den hölzernen Biergartentisch im Schmiedehof der Schultheiss- Brauerei am Kreuzberg und genießt wieder einländrige, vielklangfarbige Hauptstadtmusik.

Die Cellistin Anne Carewe vom Ensemble Oriol, auch frisch zurückgekehrt (von den Salzburger Festspielen), trägt etwas vor aus einer der spröden Solo-Suiten von Johann Sebastian Bach. Weil sie damit vom gedruckten Programmzettel abweicht und ihre mündliche Ansage nur von den wenigen Gästen an den vorderen Gartentischen verstanden worden ist, bleibt bis zum Schluß unklar, welche. Ein Rätselspiel: Erkennen Sie die Melodie? Erstens klingen diese Suiten für jemanden, der selbst nicht Cello spielt, sowieso alle recht ähnlich: streng und anstrengend wie Etüden – dabei zugleich inbrünstig, lüstern und voll heimlicher Spannungen. Es sind ja, auch wenn bei den meisten Sätzen nur das rhythmische Gerippe davon übriggeblieben ist, ursprünglich Tanzsätze gewesen: Tänze. Und das Tanzen ist seit eh und je ein Balzritual. Zweitens hört man beileibe nicht jeden Ton, den man von Carewe gespielt sieht, gleichmäßig gut. Am Rande der alten Kopfsteine im gepflasterten Brauerei-Innenhof wächst das Gras, vom Vorgarten her rauschen die Bäume, die Grillen zirpen in die Abendluft und irgendwoher von einer der angrenzenden Verkehrsschlagadern tönt zart das wieder einmal unvermeidliche Martinshorn. Natürlich (naturgemäß!) läßt die Akustik bei einem solchen städtischen Hofkonzert, wie schön der Hof auch sein mag, immer viel zu wünschen übrig. Trotz alledem, liebe Leserin, geneigter Leser: der Zauber hat funktioniert. Ich muß also berichtigen, was ich jüngst an dieser Stelle voreilig festgestellt habe, und erklären: es gibt eben doch Musik im Freien. Manchmal. Ausnahmsweise. Unter gewissen Umständen. Ein Umstand zum Beispiel wäre die freudige Bereitschaft zur Selbstsuggestion beim Hörer sowie Übung im Täuschen der Sinne seitens der Interpreten. Musik im Freien ist nur möglich, wenn man glaubt zu hören, was man sieht und was man spürt. Wenn also die Musik direkt, ohne Umweg über das Ohr, vom Herz zu Herzen geht. Die Rede ist hier selbstverständlich vom Idealfall, der sich nur gelegentlich und vorübergehend ereignet. Die Cellistin Carewe und Bach – das ist solch ein Fall. Sie hat sich in Rage gespielt. Sie beschleunigt und verzögert, ganz wie es ihr paßt, sie atmet mit und legt dann unvermutet eine intensive Hitze in den Ton, eine Klarheit und Süßigkeit, die jeden berührt. Schwankender in der Intonation als anfangs, spielt sie je länger, desto besser. Manchmal beinahe falsch. Beinahe. Man hört, auch wo man nicht hört: ihr Spiel handelt von der Möglichkeit, mit Musik die Wahrheit zu sagen. Als sie fertig ist, halten alle die Luft an, sogar die Grillen sind still. Und der Komponist Rainer Rubbert neben mir sagt laut, ehe er sich's versieht: „Jetzt kommt er gleich selbst um die Ecke, der Bach.“ Man denke: dabei hat an sich niemand wirklich diese Musik gehört!

„Der Unterschied zwischen früher und heute in der Kunst wird geprägt durch zwei Begriffe: Verfügbarkeit und Gleichzeitigkeit“ – so erläutert Eberhard Schoener seine kürzlich bei der Eröffnung der Stuttgarter Leichtathletik-Weltmeisterschaft uraufgeführte multimediale Musikmixtur: „Verfügbarkeit heißt, daß durch die Technik jede Art von Musik jederzeit abrufbar ist. Gleichzeitigkeit heißt, daß durch Telekommunikation die Möglichkeit besteht, daß Menschen an verschiedenen Orten dieser Welt gleichzeitig an einem musikalischen Ereignis teilnehmen können. Auf diesem Gedanken basiert ,harmonia mundi‘.“ Mit diesem Rezept rührte Kreativkünstler Schoener, der seit der Sache mit den Guldenburgs vor gar nichts mehr Angst hat, seine bislang dickste Weltmusik-Soße an: 150 Minuten, Musiker aus fünf Kontinenten, dazu Tauben, Fallschirmspringer, Kinder, Wurlys und so weiter. Antje Vollmer soll es, sagt der Flurfunk in der taz, ganz toll gefunden haben. Auch die zwölf Cellisten der Berliner Philharmoniker, die dabei quasi vor der Musik der Welt für etwas mehr als vier Minuten die Hauptstadt vertraten und gemeinsam mit Chris de Burgh ein „Borderline“-Arrangement vortrugen, fanden das ein „unglaubliches Erlebnis“. Es war, sagt Cellisten-Obmann Rudolph Weinsheimer, „sicher gar nicht so einfach, diese ganzen Satelliten zusammenzuschalten. Kein ernsthaftes Konzert, nicht wahr. Aber eine Riesengaudi.“ Vielen Dank für das Gespräch, Herr Weinsheimer. Genug nun der Feste und Berichtigungen, das Ende des Sommerlochs ist endlich ernsthaft in Sicht. Eleonore Büning