■ Dolgenbrodt und der Zustand fortschreitender seelischer Zerrüttung in den neuen Bundesländern
: Ist ja nix passiert

Eigentlich ein klassisches Western-Thema. Ein Fremder sucht in einem abgelegenen Nest nach einem Freund, niemand will Auskunft geben, das hartnäckige Schweigen nährt den Verdacht, daß ein Verbrechen geschehen ist. Der Fremde, auf sich allein gestellt, trotzt allen Versuchen, ihn von der Spur des Mordes abzubringen. Schließlich, in höchster Not, erhält er Hilfe von ein paar Dorfbewohnern, die nicht anders können, als ihrem Gewissen zu folgen. Der Fall wird gelöst, das Recht wiederhergestellt, der Fremde geht – stolz, traurig und bitter.

Dolgenbrodt liegt nicht in Montana und die taz- Reporterin Michaela Schießl hat Gott sei Dank keinerlei Ähnlichkeit mit Spencer Tracy. Kein Toter war zu beklagen, nur eine abgebrannte Unterkunft, die ein halbes Jahr lang Asylsuchende aufnehmen sollte. Aber es gab hier wie dort die Angst und das Schweigen. Mit einem kleinen Unterschied: Das Schweigen in „Stadt in Angst“ ist bedrückt, schuldbewußt, durch Terror erzwungen. Das Schweigen in Dolgenbrodt ist trotzig, herausfordernd, manchmal mit Augenzwinckern demonstriert, immer aber mit einem penetrant guten Gewissen. „Ist ja nix passiert“, sagt der Gastwirt, und die ehemalige Bürgermeisterin Ute Preißler resümiert: „Keiner war traurig über die Lösung – aber bestellt hat sie niemand.“

In dem immer etwas abwegigen Jargon der Strafrechtsdogmatik gibt es den Begriff „Parallelwertung der Laiensphäre“. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, daß das Publikum in der Regel tatsächlich als Unrecht empfindet, was das Gesetz verbietet – und noch einiges mehr, was das Gesetz nicht verbietet. Schließlich definiert das StGB nur ein ethisches Minimum. In Dolgenbrodt hat sich dieses Verhältnis genau umgekehrt. Das Strafrecht steht turmhoch über dem Unrechtsbewußtsein. Keinesfalls war das Abfackeln des ehemaligen Kinderheims „Heinrich Rau“ ein Akt der Ausländerfeindlichkeit. Davon hätte man nur sprechen können, wenn die Ausländer bereits einquartiert gewesen wären. Unterhalb versuchten Mordes breitet sich der rechtsfreie Raum aus. Nicht ganz – noch ist den Dorfbewohnern vage die Teilnahmeform der Anstiftung im Gedächtnis. Beauftragt haben sie deshalb niemand, und auch fürs Brandstifterhonorar wollen sie nicht gesammelt haben – zumindest nicht vor der Tat. Vorsichtige Hausväter!

Die Soziologen nennen einen Zustand, bei dem als Folge tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche das Bewußtsein von Recht und Unrecht ins Schwimmen gerät, Anomie, zu deutsch Gesetzlosigkeit. Die Gesellschaft nach 1918 und nach 1933, später noch einmal nach 1945, zeigte anomische Züge. Das war keine auf Deutschland beschränkte Erfahrung, und es waren nicht nur hiesige Denker, die sich darum sorgten, wie dünn die Zivilisationsdecke ist, die uns wärmt und schützt. Aber dieser Zustand äußerer Not und seelischer Zerrüttung, der die Menschen die Maßstäbe verlieren läßt, zeigt in Deutschland eine unverwechselbare Färbung. Man zündet nicht an, man läßt anzünden, oder arisieren, oder morden. Wegsehen und profitieren. Wo immer möglich, muß ein Rahmen erhalten bleiben, der es uns erlaubt im Recht zu sein. Auch die Dörfler von Dolgenbrodt werden sich selbst dann im Recht fühlen, wenn der erste aus ihrer Mitte zu Protokoll geben wird, was sich im Herbst vergangenen Jahres tatsächlich zugetragen hat.

Es fällt nicht schwer, die spezifischen Formen der Anomie in den „neuen Ländern“ zu benennen. Vierzig Jahre lang sah sich die Bevölkerung einem Regime gegenüber, das sie mit einem Wust von beliebig interpretierbaren Gesetzen und Verordnungen überzog, die noch dazu jederzeit annulliert werden konnten. Unsicherheit war der ständige Aggregatzustand des „sozialistischen Rechtsstaats“. Die Bevölkerung reagierte auf ihre Weise. Sie schlug sich durch „na lewo“, immer am Rande dessen manövrierend, was behördlicherseits gerade noch erlaubt war. Mit der Vereinigung kam der weitverzweigte und wohlgeordnete Korpus westlicher Gesetze, kamen Richter – und Grundbuchbeamte. Die neu gewonnene Sicherheit durch Recht führte zur Unsicherheit der Rechtssubjekte. Rückgabe vor Entschädigung? Wurde noch mit Zähneknirschen hingenommen. Übernahme des Schlüssels für die Aufteilung der Asylsuchenden? Das war zuviel, das wurde von den Ex-DDR-Bürgern als Anschlag auf ihre Lebenswelt angesehen. Ein schrecklicher Verdacht grassierte: Das importierte Recht ist nichts als Instrument der Kolonialisierung.

Auf eine unvorhergesehene und paradoxe Weise spielt, wie das Beispiel Dolgenbrodt zeigt, die Bevölkerung die neu gewonnene Demokratie gegen den Rechtststaat, nein, auch gegen die Menschenrechte aus. Eine Bürgerinitiative wird gegründet, Dorfversammlungen praktizieren unmittelbare Demokratie, der fernen Staatsmacht in Potsdam wird Legitimität abgesprochen, ziviler Ungehorsam wird erwogen, dann aber kommt die „saubere Lösung“, gefolgt von kollektivem Schweigen. Während so das Gegenteil von jeder denkbaren Form von Demokratie praktiziert wird, ist das basisdemokratische Argument in aller Munde. Es wird taktisch eingesetzt und dient der Abwehr.

Natürlich ist es angesichts dieser Sachlage politisch falsch (und moralisch fragwürdig), sich, wie Brandenburgs Justizminister Bräutigam, mit der Bemerkung vor die Dolgenbrodter zu stellen, bislang handle es sich bei den Vorwürfen gegen sie nur um Gerüchte. Seine Aufgabe wäre es gewesen, in aller Öffentlichkeit der säumigen Staatsanwaltschaft Beine zu machen. Sie hat endlich zu tun, wofür sie bezahlt wird: einem Verdacht nachzugehen. Ebenso sicher aber ist, daß gegenüber Erscheinungen gesellschaftlicher Anomie die Zwangsmittel des Staates versagen. Wenn die Medien Dolgenbrodt abgefeiert haben, werden sich ein paar mutige Bürgerrechtler auf den Weg machen müssen. Allerdings nicht im Stil Spencer Tracys, des hochverehrten. Und nicht nur für neunzig schöne Filmminuten. Christian Semler