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Grundgesetz contra Koran?

Das Bundesverwaltungsgericht muß entscheiden: Können strenggläubige moslemische Mädchen zum Sportunterricht mit Jungen gezungen werden? / „Schwierige Gratwanderung“  ■ Aus Berlin Vera Gaserow

Links auf dem Richtertisch das Grundgesetz, rechts der Koran – eingestandenermaßen eine Premiere, die gestern vor dem Bundesverwaltungsgericht stattfand. Auf dem juristischen Prüfstand steht ein Ausschnitt unserer multikulturellen Gesellschaft. Zur höchstrichterlichen Entscheidung steht die Frage – welche Anpassungsleistung kann oder muß (?) die bundesdeutsche Gesellschaft von den hier lebenden ausländischen Familien verlangen? Welche weltanschauliche und religiöse Toleranz muß umgekehrt das Einwanderungsland Bundesrepublik gegenüber den Immigranten zeigen? Und können die Schulen eine Emanzipation der Frau erzwingen, die von den Eltern und vielleicht auch von ihren Töchtern gar nicht gewollt wird? „Das wird“, so machte der Vorsitzende des 6. Senats des Bundesverwaltungsgerichts gleich zu Anfang der Verhandlung klar, „eine schwierige Gratwanderung.“

Anlaß für die „Gratwanderung“ sind die 15jährige Hatice B. aus Bochum und die gleichaltrige Ayse A. aus Bremen. Stellvertretend für viele andere, haben die Eltern der beiden türkischen Mädchen bei den jeweiligen Schulbehörden einen Antrag auf Befreiung vom koedukativen Sportunterricht gestellt. Aus religiösen Gründen, so die Argumentation, sei es ihren Töchtern verboten, gemeinsam mit Jungen Sport zu treiben. Sowohl ihre eigene Blöße zu zeigen als auch die Jungen in Turnkleidung zu beobachten verstoße gegen den Koran. In beiden Fällen hatten die Kultusministerien diese Anträge aus prinzipiellen Gründen abgelehnt. Der koedukative Sportunterricht sei unverzichtbarer Bestandteil des staatlichen Erziehungsauftrages, er diene der Förderung sozialen Verhaltens. Eine Freistellung der strenggläubigen Mädchen, so hatte beispielsweise der Bremer Schulsenat argumentiert, leiste einer Ausgrenzung Vorschub und fördere gar die Ausländerfeindlichkeit, weil die Sonderstellung der türkischen Schülerinnen den Mitschülern nicht vermittelbar sei. Außerdem: Wenn schon der Anblick freizügig bekleideter Männer und Frauen nicht mit der religiösen Überzeugung vereinbar sei, müßten sich die Mädchen faktisch aus dem öffentlichen Leben zurückziehen. Und dies widerspreche der gleichberechtigten Stellung der Frau in der Gesellschaft. Eine Emanzipation ihrer Tochter nach westlichen Maßstäben wünschten sie ja auch gar nicht, hatten die Eltern von Ayse A. erwidert.

Die Gerichte wurden zur Klärung der Prinzipienfrage angerufen und kamen zu Urteilen, die widersprüchlicher kaum sein können. Dem Sport komme eine höhere Bedeutung zu als der Religionsfreiheit, hatte das Oberverwaltungsgericht Münster im Fall von Hatice B. entschieden. Sie könne durch Kopftuch und Trainingsanzug ihre eigenen Blößen im Sportunterricht verdecken. Wenn sie dennoch nicht am gemischt-geschlechtlichen Sportunterricht teilnehmen wolle, sei ihr auch ein Wechsel auf eine andere Schule oder gar ein Umzug innerhalb Deutschlands zumutbar. Ganz anders urteilte das OVG Bremen bei Ayse A.: Die Schule, so die Richter, sei Teil der multikulturellen Gesellschaft und habe sich organisatorisch und pädagogisch darauf einzurichten. Sie habe in diesem Fall nicht Zugeständnisse an die Integration einzufordern, sondern religiöse Toleranz zu beweisen.

Vor der höchstrichterlichen Instanz, dem Bundesverwaltungsgericht, begründete gestern eine durchaus selbstbewußte Hatice B. die Gründe für ihre Weigerung. „Ich hab' nichts gegen Sport, ich treibe auch Sport zusammen mit Mädchen“, erklärte die 15jährige mit dem Kopftuch in fast akzentfreiem Deutsch den Herren in den roten Roben. „Aber ich will nach dem Koran leben. Der Sportunterricht mit Jungens, das ist für mich ein richtig seelischer Druck. Ich muß Angst haben, daß mein Kopftuch verrutscht, und kann meine Blicke nicht abwenden von den anderen.“

Aber gerade dieser Anblick freizügig gekleideter Menschen, so argumentierte Regierungsdirektor Ulrich Kaschner gestern vor dem Gericht, sei „in der westlichen Hemisphäre lebenden Menschen zumutbar“. Bremen sei zwar durchaus in der Lage, den Sportunterricht nach Geschlechtern zu trennen, aber das sei pädagogisch nicht gewollt.

Tatsächlich steckt bei den Bildungspolitikern noch eine andere Sorge hinter dem Grundsatzstreit. Schon jetzt haben sich beispielsweise an einer einzigen Bremer Schule 68 Eltern im Namen des Koran Anträge auf Befreiung ihrer Töchter vom Sportunterricht gestellt. Allein an dieser Schule durften 109 Mädchen aus religiösen Gründen nicht an Klassenfahrten teilnehmen. Tendenz steigend. Wenn die höchstrichterliche Entscheidung zugunsten der klagenden türkischen Eltern ausgehen sollte, dann drohe, das haben einige Moscheen schon angekündigt, eine Welle von Anträgen auf Befreiung. Diese Befreiung vom Unterricht wird sich dann auch auf andere Fächer erstrecken.

Betroffen sind etwa der Sexualkundeunterricht und die Aids- Aufklärung. Die Bundesverwaltungsrichter sehen noch weitere Konsequenzen: „Alles, was wir hier entscheiden, muß verwertbar sein für ähnlich gelagerte Fälle, in denen unter Berufung von Glaubenssätzen etwas verweigert wird, was der Staat verlangt.“ Eine Entscheidung in dieser schwierigen Abwägung wollten die Richter gestern nach Redaktionsschluß fällen.

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