Waldheim: „Staatlich sanktionierte Lynchjustiz“

■ Plädoyer des Staatsanwalts im Prozeß gegen den Waldheim-Richter Otto Jürgens / Mord- bzw. Totschlagsvorwurf aus Mangel an Beweisen fallengelassen

Leipzig (taz) – In dem ersten Verfahren gegen einen der berüchtigten Waldheim-Richter, Otto Jürgens, begannen gestern vor dem Leipziger Landgericht die Plädoyers. Den Mord- bzw. Totschlagsvorwurf ließ Staatsanwalt Dietrich Bauer überraschend fallen. Nicht mit letzter Gewißheit könne dem angeklagten 86jährigen Richter nachgewiesen werden, daß er im Jahre 1950 tatsächlich für die Todesstrafe gestimmt habe. Daher gelte der Rechtsgrundsatz „in dubio pro reo“ – im Zweifel für den Angeklagten, und übrig blieb der Vorwurf der Rechtsbeugung und der schweren Freiheitsberaubung.

Jürgens war 1950 in dem kleinen sächsischen Städtchen Waldheim als Richter in einer der dort extra und für nur kurze Zeit eingerichteten 19 Strafkammern tätig. In nur wenigen Wochen wurden dort 3.324 mutmaßliche und tatsächliche Naziverbrecher abgeurteilt. Für diesen Zweck hatte Jürgens, überzeugter Kommunist und von Beruf Schreiner, einen „Volksrichterlehrgang“ absolviert. In nur einem Jahr wurden ihm Kenntnisse des Richter- und Staatsanwaltberufs beigebracht. In seinem Plädoyer, welches erst heute beendet wird, sagte der Staatsanwalt: „Mit diesem Prozeß wird der Versuch unternommen, einen ersten Schlußstrich unter die Waldheimer Prozesse zu ziehen.“

In aller Ausführlichkeit stellte er die Ungeheuerlichkeit der damaligen Verfahren dar. Unbestritten habe es sich bei den Waldheimer Prozessen um Ausnahmegerichte gehandelt. Im Gefängnis selbst wurden die Schnellverfahren unter Ausschluß der Öffentlichkeit, ohne Zeugen, ohne Urkunden und fast immer ohne Verteidiger im 20-Minuten-Takt durchgepeitscht. Als einzige Grundlage diente ein Protokoll der Sowjets, die die Gefangenen der neuen DDR-Regierung übergeben hatten. Hinzu kam noch ein Vernehmungsprotokoll der Volkspolizei. Staatsanwälte waren bei den Ermittlungen nicht beteiligt.

„Fazit“, so der Staatsanwalt, der unendliche Mengen der noch erhaltenen Akten durchgegangen ist: „Die bloße Mitgliedschaft in einer der diversen Organisationen während der NS-Zeit genügte für eine Verurteilung“ – sanktioniert wurde die Gesinnung, nicht eine nachgewiesene Tat. Die „staatlich sanktionierte Lynchjustiz“ – so der Staatsanwalt – fand unter der Regie der SED und des Justizministeriums statt. Hier war bereits vorher festgelegt worden, daß grundsätzlich keine Strafen unter fünf Jahren ausgesprochen werden dürften. Ständig weilte eine Abordnung aus Berlin in Waldheim, um das im Sinne der SED veranschlagte Konzept zu überwachen.

Obwohl die Prozesse von oben gesteuert waren, könne sich der Angeklagte Jürgens nicht damit herausreden, daß er keine individuelle Schuld trage. Obwohl mehr schlecht als recht ausgebildet, wußte er genau, was er tat, wußte von den rechtsstaatlichen Prinzipien eines Strafprozesses und stellte dies auch in späteren Verfahren am Hallenser Gericht unter Beweis – auch dort ging es um die Aburteilung von Naziverbrechern.

Jürgens habe bewußt und gewollt das Recht gebeugt, als er an den Waldheimer Verfahren mitwirkte und sich den dort angewandten Methoden nicht widersetzte, diese vielmehr mittrug.

Nur der Mord- bzw. Totschlagsvorwurf (in Tateinheit mit Rechtsbeugung) an den NS-Staatsanwalt Heinz Rosenmüller „könne nicht mit letzter Konsequenz nachgewiesen werden“ – wenn auch starke Indizien dafür sprächen. Jürgens hatte ausgesagt, daß er in der entscheidenden Abstimmung im Unterschied zu den anderen Richtern gegen die Todesstrafe und für eine lebenslängliche Freiheitsstrafe gestimmt habe. Julia Albrecht