Sanssouci: Vorschlag
■ Jane Campions Kurzfilme im Eiszeit-Kino
Der zweite Punkt im Beichtspiegel hieß „Sünden gegen mich selbst“. Nie wußte ich, was das ist. Bei den Sünden gegen Gott und den Sünden gegen die Mitmenschen fiel mir immer etwas ein. Aber gegen mich selbst? Von diesen vier Worten ging ein Zauber aus, ein verbotener Duft wie von der Schlafzimmertür der Eltern am Sonntagmorgen. Irgendwie wußte ich, wenn ich solche Sünden beging, würde ich nicht mehr klein sein. Ich hatte Angst davor und Lust darauf. Der Pfarrer im Religionsunterricht nannte es „schmutzige Gedanken“.
Das war Ende der Sechziger in einer westdeutschen Kleinstadt. „A Girl's Own Story“, Jane Campions längster Kurzfilm, erzählt von den Sixties in Australien. Lauter schmutzige Gedanken. Von Pam, dem dicken Mädchen mit der Kassenbrille, ihrer Schwester Stella, die sich die Lockenwickler der Mutter ins Haar dreht, und der Freundin Gloria, die „so Sachen“ mit ihrem Bruder macht. Drei Mädchen, drei Gesichter, dazu eine Spieluhr. Sie betrachten die Zeichnung eines nackten Mannes, Pam fährt mit dem Finger den steil erigierten Penis entlang. Pam und Stella küssen die Beatles, die im Kinderzimmer an der Wand hängen. Stella schwärmt von Ringo Starr. Pam zieht sich das Gesicht von Ringo Starr über wie eine Faschingsmaske und legt sich auf Stella. Sie üben Knutschen für später, in Schuluniform. Das Haar ziept dabei. Sie wissen, was Gloria und ihr Bruder tun, ist unanständig.
Seit zwei Jahren reden Vater und Mutter nicht mehr miteinander. Wenn der Vater der Mutter am Eßtisch sagen will, sie soll sich auch mal Locken drehen, tut er es über die Töchter. Und die Mutter läßt zurückfragen, wo er neulich Abend so lange gewesen sei. Später schlagen und küssen sie sich, haben Sex im Hausflur, Pam flüchtet und stellt sich vor: Männerhände auf Mädchenbeinen. In der Nonnenschule spielen die Mädchen Rockkonzert. Tennisschläger als Gitarren, wilde Tänze mit runtergerutschten Kniestrümpfen, hysterisches Kreischen. Die Nonne eilt auf den Schulhof und klatscht in die Hände. Der Traum vom bösen Mann, der das Mädchen mit dem Kapuzenmantel nachts auf der Straße ins Auto zerrt, endet mit dem weißen Kätzchen, nach dem das Mädchen die Hand ausstreckt. Die Verführung ist eine Sehnsucht und ein Alptraum. Das Springseil windet sich wie eine Schlange.
Gloria spielt Katze mit ihrem Bruder. Der Bruder sagt, Katzen tragen keine Kleider, und zieht sich aus. Gloria bittet ihn, die Heizung anzustellen und fragt, was sie tun muß. Dann legt sie sich auf den Teppich, in Unterwäsche. Es ist nur ein Spiel.
Gloria kommt nicht mehr zur Schule. Sie lebt jetzt in einem Heim für schwangere Mädchen. Pam erfährt es in der Sammelumkleide der Badeanstalt. Sie sitzt da, mit ihrer häßlichen Badekappe und dem Handtuch über den pummeligen Schultern, allein. Der Bruder besucht sie, Gloria friert im Morgenrock, die Nonnen stellen die Heizung erst nach sechs an. Sie hat jetzt ein aufgedunsenes Gesicht, ihr Kußmund wirkt entstellt. Der Bruder schenkt ihr Babyschuhe, steckt sie sich auf die Finger und trippelt damit. „Küß mich“, sagt Gloria. „Das ist unanständig“, wehrt sich der Bruder. Dann ist die Besuchszeit vorbei. Die Heizung ist immer noch nicht angesprungen, eine Klaviermelodie ertönt, ein Motiv, das Michael Nyman für „Das Piano“ wieder aufgegriffen hat. Nach der Geburt werden die Kinder adpotiert.
„A Girl's Own Story“: Alle Filme von Jane Campion könnten so heißen. Geschichten vom Mädchensein, von der Angst und der Einsamkeit und der Lust. Geschichten von Eltern, die sich nur noch über die Kinder verständigen, genau wie die stumme Ada über ihre Tochter Flora in „Das Piano“. Geschichten von Sexualität, wie sie in der Familie anfängt und wie sie für Mädchen aussieht. Schwarzweiße Erinnerungen, oft nur ein Schattenriß. Nachtgeschichten. Am Schluß steht Pam im Windkanal und singt: „I feel the cold, I want to melt away.“ Die Mädchen wärmen ihre Hände an der Heizspirale. Bei Jane Campion ist Kindheit etwas Kaltes.
Ob in „Sweetie“ oder „Ein Engel an meiner Tafel“, Jane Campion erzählt immer von dem, was die anderen weglassen. Woran man sich nicht erinnert, weil es die Erinnerung nicht wert ist. Jedenfalls nach Erwachsenen-Maßstäben. In „Peel“ fährt ein Mann mit Sohn und Schwester auf der Landstraße nach Hause. Der Sohn wirft Apfelsinenschalen aus dem Wagenfenster. Der Vater hält an und zwingt ihn, sie aufzuheben. Die Schwester ärgert sich über den Aufenthalt, beschimpft den Bruder, schält die nächste Apfelsine und wirft die Schalen ebenfalls zu Boden. Der Junge herrscht sie an, betrachtet ihr Gesicht, dann das des Vaters und staunt, wie sie sich gleichen. Untertitel: „A true story. A true family“. Der Straßenrand ist voller Müll.
In „Passionless Moments“ geschieht gar nichts. Ein Mann macht Yoga, ein anderer wäscht Unterhosen in der Badewanne, eine Frau arrangiert Blumen, ein Junge kauft eine Tüte Bohnen, ein Mädchen erwartet einen Telefonanruf. Und doch geschieht ganz viel. Der Junge mit den Bohnen stellt sich vor, in der Tüte befinde sich eine Bombe, die in zwanzig Sekunden explodiert, wenn er sie bis dahin nicht in der Küche abgestellt hat. Die Frau mit den Blumen hört einen Specht klopfen. Aber in Australien gibt es keine Spechte. Es ist nur die Nachbarin an der Teppichstange. Und der Mann, der den Staub im Licht tanzen sieht, erinnert sich daran, wie seine Mutter erzählte, die Staubkörner seien Engel. Das schwule Pärchen, das schweigend auf dem Bett liegt, hängt seinen Gedanken hinterher. Sie werden sich bald trennen. Dem einen fällt eine Eigenart des menschlichen Auges auf: Man sieht immer nur eine Sache scharf. Auf zwei Sachen gleichzeitig kann man nicht gucken.
Jane Campion hat keinen Überblick. Das ist ihre Stärke. Ihre Filme bersten vor Gegenwart. In ihrem Kino ist alles gleichzeitig: kein Fluß der Zeit, in den das Jetzt eingebettet wäre. Eine Million solcher Augenblicke gibt es in der Nachbarschaft, sagt die Off- Stimme. Und das jeder von ihnen eine zerbrechliche Präsenz hat, die im Moment ihres Entstehens schon wieder verblaßt. Christiane Peitz
Alle Filme s/w, OF. Bis 1.9. um 19.30 Uhr im Kino Eiszeit.
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