Ungesunde Folgen einer Torschlußpanik

■ Den Krankenhäusern fehlen Fachärzte, die sich überstürzt niederlassen wollten

Zwischen Hüftprothese und Mesniskusoperation ein schneller Spurt auf die Station, um dringende Telefonate zu erledigen und einen Blick auf die Patienten zu werfen. Seit Jahresbeginn ist der Klinikalltag in der Orthopädie des Urban-Krankenhauses um einiges härter geworden. Fünf Ärzte, davon zwei der drei Oberärzte, sind seitdem ausgestiegen, um sich niederzulassen. Die Ursache dafür ist das Gesundheitsstrukturgesetz, das die Kriterien für eine Überschreitung der Bedarfszahlen für Ärzte erheblich verschärft und damit zu einem faktischen Niederlassungsstopp führte. Eine regelrechte Torschlußpanik hat sich bei den Ärzten breitgemacht.

Wer bis zum 31. Januar dieses Jahres einen Niederlassungsantrag bei der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) gestellt hatte, konnte sich noch gemäß den alten Bestimmungen niederlassen. Viele Krankenhausärzte ergriffen überstürzt die auf absehbare Zeit vermutlich letzte Chance, eine eigene Praxis als Kassenarzt zu eröffnen. Etwa 1.600 Niederlassungsanträge wurden innerhalb weniger Monate gestellt – in den vergangenen Jahren waren es nur 50 bis 60 jährlich. Die Folge sind personelle Engpässe in den Krankenhäusern.

Einige lassen sich selbst dann nieder, wenn sie die Facharztausbildung noch gar nicht abgeschlossen haben, gehen also mit geringeren Qualifikationen in die Praxis. Ab 1994 ist das allerdings nicht mehr möglich. Dann besteht eine dreijährige Weiterbildungspflicht für jeden neu approbierten Arzt. Dennoch befürchtet Wilfried Nax von der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin, daß durch den Niederlassungsstopp auch langfristig der qualifizierte medizinische Nachwuchs im ambulanten Bereich ausbleiben wird.

Unter permanenter Existenzangst leben

„Besonders junge Kollegen leben in permanenter Existenzangst und stehen deshalb unter einem erheblichen Druck“, meint Thomas Gardain, Betriebsratsvorsitzender der Berliner DRK-Krankenhäuser. Mit dem Niederlassungsstopp hat sich die Situation noch verschärft. Überstunden werden zur Selbstverständlichkeit und Kritik an Mißständen zum Risiko. Der Arbeitsplatz Krankenhaus ist somit eine fragwürdige Alternative, sofern man nicht die Karriereleiter zum Ober- oder Chefarzt mühsam erklimmen möchte. Und die Chance gibt es nur für wenige.

Ärzte, die sich jetzt niederlassen wollen, müssen ihre Zulassung jeweils für einen bestimmten Bezirk beantragen, noch ehe sie überhaupt eine Praxis oder geeignete Räumlichkeiten in Aussicht haben. Die Aufteilung der Kassenarztsitze nach Bezirken ist eigentlich sinnvoll: So können Plätze in unterversorgten Bezirken offengehalten werden. Gerade unter dem gegenwärtigen Zeitdruck wird der Zwang zur Festlegung aber für viele zum Problem. Wenn nämlich die Entscheidung für einen Bezirk gefallen war, sich wider Erwarten aber bereits geplante Praxisübernahmen zerschlagen. Die Zulassung kann dann nicht ohne weiteres geändert werden. „Die Kassenärztliche Vereinigung ist nicht bereit, sich Gedanken zu machen, und reagiert unflexibel“, kritisiert Maren Schellenberg von der Ärztekammer. „Die Sätze werden ohnehin für ganz Berlin errechnet.“ Sprich: Die Kassenärzte in Berlin werden aus einem gemeinsamen Topf bezahlt. In welchem Bezirk nun jemand arbeitet, spielt für die Gelder keine Rolle.

Initiative Bezirkstausch

Heinz Reinke, ein junger Arzt, dessen Vertrag im Krankenhaus bereits vor einem Jahr ablief, hat daher mit Unterstützung der Ärztekammer die „Initiative Bezirkstausch“ gegründet, die den Wechsel zwischen verschiedenen Bezirken durch Tauschlisten organisieren will.

Bis zum 30. September muß das Praxisschild allerdings tatsächlich an der Hauswand hängen. Wer es bis dahin nicht geschafft hat, dem wird die Zulassung wieder entzogen. „Es noch rechtzeitig hinzubekommen, ist unter Zeitdruck alles andere als leicht“, klagt Reinke. Viele ältere Kollegen verhielten sich unkollegial und forderten weit überhöhte Preise für die Übernahme ihrer Praxen. „So manch einer gibt daher vorzeitig auf“, so der Praktische Arzt, „weil er die Schnauze voll hat. Die älteren Kollegen ziehen uns über den Tisch.“ Die Kassenärztliche Vereinigung schätzt, daß sich nur etwa 1.000 der 1.600 Antragsteller niederlassen werden.

Jungarzt Reinke schafft es vielleicht noch bis Ende September. Er hat ein neues Angebot in Reinickendorf und müht sich um einen Tausch und die Zulassung für den anderen Bezirk. Wenn das nicht klappt, muß er wohl doch einen Neuanfang in Spandau wagen, wo er ursprünglich seine Zulassung beantragt hatte. Wie er das finanzieren soll, weiß Reinke nicht: „Einen Kredit gibt mir niemand.“ Als Vertreter kranker Kollegen oder Notarzt hat sich der junge Mediziner seine Zukunft jedenfalls nicht vorgestellt. Anja Dilk