Der Mythos vom rasenden Desperado

Der Alltag von Fahrradkurieren ist alles andere als rosig / Die Biker sind nicht angestellt, sondern arbeiten auf eigenes Risiko / Nur wenig schwere Unfälle, aber hohe Belastung der Atemwege  ■ Von Martin Böttcher

Tony rast mit seinem Rad auf die Kreuzung zu, bremst etwas ab und sieht dabei nach links und dann nach rechts. Die gelbe, weithin sichtbare Tasche auf seinem Rücken wackelt hin und her. Die Kreuzung ist halbwegs frei, also tritt der 25jährige mit der kräftigen Gestalt in die Pedale, ohne auf das Rotlicht der Ampel zu achten. Dreißig Meter weiter ist allerdings erst einmal Schluß für gelbe Tasche samt Fahrer: Eine Radlermausefalle der Polizei wartet gut versteckt hinter einem Laster. Diesmal hilft kein Leugnen, die Polizisten präsentieren eine gestochen scharfe Videoaufnahme von Tony und der roten Ampel. Es folgt eine kurze Belehrung, dann kann Tony weiterfahren. Der Bußgeldbescheid, so wird ihm mitgeteilt, komme sicher bald.

Tony, der mit vollständigem Namen Anthony Pringle heißt, hat noch Glück gehabt, eine langwierige Inspektion seines Rades blieb ihm erspart, seinem Kunden dadurch eine lange Wartezeit. Zu lange Lieferzeiten bedeuten im Kuriergewerbe mit Sicherheit Ärger: Schnelligkeit ist fast oberstes Gebot – nur Zuverlässigkeit wird noch größer geschrieben. Gerade an Tagen, an denen viel zu tun ist, wird die Streßskala ausgereizt. „Man braucht einen besonderen Charakter, um Kurier zu sein“, sagt Tony, „auf der einen Seite hat man den ganzen Streß und muß die Sache ernst nehmen, auf der anderen Seite darf man sich selbst nicht kaputtmachen. Auf keinen Fall darf man sich die ganze Zeit nur über die ach so bösen Autofahrer aufregen, das muß man als Kurier eher locker sehen.“

Alles „locker sehen“, das ist das Zauberwort der Fahrradkuriere. Anders ist der Job wohl auch nicht auszuhalten. Zwar ist in Zeitungen immer wieder bewundernd die Rede von den urban heroes, den Helden der Großstadt, doch jeder Arbeitsrechtler wird sich bei den Arbeitsbedingungen der Kuriere an den Kopf fassen: Den ganzen Tag über atmen die rund 500 cycle messenger der Stadt verstärkt Abgase ein, besonders kritisch wird es bei hoher Schadstoffbelastung oder Smogvorwarnstufe. Im Sommer kommt noch, gewissermaßen als kostenlose Dreingabe, die Ozonbelastung dazu, die sich allerdings im Innenstadtbereich in der Regel in Grenzen hält. Besonders kritisch wirkt sich bei den Abgasen aus, daß die Kuriere durch das schnelle und anstrengende Fahren etwa fünf- bis sechsmal soviel Luft durch ihre Lungen wälzen wie ein sitzender Autofahrer. Michael Wagner vom Bundesgesundheitsamt: „Es gibt noch keine Untersuchungen über die langfristigen Belastungen bei Fahrradkurieren. Aber ich kann diese Menschen nur warnen. Sie atmen Dieselruß und krebserregendes Benzol ein, das vergißt das Gewebe nicht.“

Die Verletzungsrate hält sich bei den Fahrradkurieren in Berlin allerdings in Grenzen. Tonys Arbeitgeber „messenger“, Berlins größtes Fahrradkurier-Unternehmen, verzeichnete in den letzten Jahren nur einen einzigen schweren Unfall. Damals brach sich ein Kurier den Arm. Ansonsten bleibt es meist bei Abschürfungen und Prellungen. Und manchmal geben wegen der Überbeanspruchung die Knie ihren Geist auf: Dann heißt es, den Job zu wechseln oder vom Fahrrad aufs Motorrad oder ins Auto umzusteigen. Tony, der aus dem englischen 200-Seelen- Dorf Newton-on-the-moore nicht weit von der schottischen Grenze kommt, kann sich das allerdings nicht vorstellen. Er will sich mit dem Fahrradfahren fit halten für seinen eigentlichen Beruf als Dive Master, als Tauchlehrer. Kurz vor der Maueröffnung kam er nach Berlin und verliebte sich hier. Er ging dann nach Mexiko, um Tauchunterricht zu geben, kam aber wieder zurück. Seit mehr als einem halben Jahr fährt er als Kurier, möchte Geld verdienen, um, wie er sagt, „ins Paradies zu fliegen“.

Ein toter Fisch als Eilsendung

Das Paradies, das ist für ihn Kenia oder Senegal, doch bevor er dorthin übersiedeln kann, wird es noch eine Weile dauern. Denn so gut ist der Verdienst der Fahrradkuriere nicht. Zwar geistern immer wieder Zahlen von 4.000 bis 5.000 DM Monatsverdienst durch die Presse, doch das ist nicht das Nettoeinkommen. Da die Kuriere als ihre eigenen Unternehmer arbeiten, haben sie Umsatzsteuer abzuführen, auf ihr Einkommen wird natürlich Einkommensteuer erhoben. Die Boten sind nicht angestellt und haben deshalb für Kranken-, Diebstahls- und Sozialversicherung selbst zu sorgen. Bezahlter Urlaub, Weihnachtsgeld oder dreizehntes Monatsgehalt sind für sie Fremdworte. Und wenn das Arbeitsgerät einmal kaputtgeht, haftet nur der Kurier. Andererseits tragen die Boten viel Verantwortung, wenn sie Geld, Zahnprothesen, Flugtickets, Druckvorlagen, Architektenpläne, Software und immer wieder Briefe transportieren, denn sie haften für Beschädigungen und Verspätungen.

Trotz dieser Nachteile hat der Job als Fahrradkurier einen guten Ruf. Viele reizt die Vorstellung, sich als Einzelkämpfer in das Verkehrsgetümmel zu stürzen, neue Menschen kennenzulernen und in Büros und Häuser vorzudringen, die für das allgemeine Publikum verschlossen bleiben. Und schließlich geht es nicht immer nur ernst und bedeutend zu. Sehr beliebt ist die Tour zu einer älteren Frau in Westend, die sich von einem bestellten Fahrradkurier immer die Einkaufstüten hochtragen läßt. Und Tony fährt lieber jede noch so verantwortungsvolle Sendung als die, die kürzlich die ganze „messenger“-Zentrale erheitert hat: Ein Bote mußte einen toten Fisch transportieren, und seine Tasche stank noch zwei Tage später.