Kein Funken Klarheit nach fünf Jahren

Das Desaster bei der Flugschau in Ramstein ist im Vernebelungssumpf einer anderen Tragödie untergegangen / Schlampige Ermittlungen und ein unerklärliches Zeugensterben  ■ Von Werner Raith

70 Tote, mehr als 400 Verletzte, ein höchst beunruhigender Hintergrund und eine völlig unzureichende strafrechtliche Behandlung des Desasters, Abfindungen in geradezu lächerlicher Höhe (DM 16.000 pro Todesopfer): das ist der Stand der Dinge exakt fünf Jahre, nachdem bei der jährlichen Flugschau über der amerikanischen Airbase Ramstein Mitglieder der italienischen Flugstaffel „Frecce tricolore“ ineinandergerast und auf die Zuschauer gestürzt waren. Doch in Deutschland scheint kaum jemand an einer wirklichen Aufklärung interessiert – die sofort nach dem Desaster von den Italienern (als Flugkünstler), Amerikanern (verantwortlich für die Sicherheit am Platz) und Deutschen (zuständig für die Rettungsmaßnahmen) verbreitete Annahme eines Pilotenfehlers wurde sowohl von der Dreiländer-Militärkommission wie dem Strafgericht in Udine übernommen.

Sie gilt bis heute als offizielle Version – obwohl selbst der in Italien untersuchungsführende Staatsanwalt Paviotti unumwunden zugibt: „Alle Piloten, die ich vernommen habe, erklären, daß es sich unmöglich um einen Pilotenfehler handeln kann, die Flugfigur gehörte zu den einfachsten der ganzen Show“ – und der verursachende Pilot war einer der erfahrensten der gesamten Italo-Luftwaffe. Paviotti weiter: „Ich habe irgendwann resigniert, weil ich einfach nicht weitergekommen bin.“ Der Einstellungsbeschluß bezieht sich denn auch rein formal auf die Tatsache, daß der „Verursacher, Oberst Ivo Nutarelli, tot ist und das Strafgesetz Ermittlungen gegen Tote verbietet“. Ein Fehler des Boden-Kommandanten – der die Flugfiguren überwacht – wurde ebenfalls nicht festgestellt, und damit hatte die italienische Justiz ihre Pflicht erfüllt. Basta.

Ende 1990 jedoch kamen gerade hinsichtlich des Unglückspiloten und des ebenfalls umgekommenen Staffelführers Oberst Naldini Erkenntnisse ans Licht, die durchaus auch ein anderes Szenarium als den „Pilotenfehler“ möglich erscheinen ließen, nämlich Sabotage – vielleicht nicht mit dem Ziel, ein solches Desaster heraufzubeschwören, wohl aber, um Nutarelli und seinen Kameraden Naldini zu „warnen“.

Geschehen war folgendes: Knapp zehn Tage vor der Flugschau hatte der Untersuchungsführer einer anderen Flugzeugkatastrophe, Untersuchungsrichter Bucarelli, bei seinen Recherchen über den Absturz einer DC-9-Maschine über der Insel Ustica im Jahre 1980 (81 Tote) einen Flugauftrag gefunden, wonach Naldini und Nutarelli, damals Kampfflieger, just zur Zeit des Absturzes der DC 9 zusammen mit einem weiteren Piloten mit zwei T104-Maschinen vom Stützpunkt Poggio Ballone bei Grosseto zu einer Abfangaktion aufgestiegen waren und dabei den Luftraum beflogen hatten, durch den zu dieser Zeit auch die DC 9 kam.

Das Dokument hatte eminente Bedeutung: Bereits seit Jahren hatten Journalisten und von den Unfallopfern beauftragte Sachverständige immer wieder Belege veröffentlicht, wonach der Absturz der DC 9 nicht durch einen Gehäuseschaden oder eine Bombe an Bord, sondern nur durch eine Rakete oder einen Beschuß von außen geschehen sein konnte. Insbesondere die USA und Frankreich, die in diesen Tagen einen Putsch gegen Libyens Staatschef Gaddafi unterstützten, kamen da in Verdacht. Doch alle Luftwaffenstellen hatten stets behauptet, daß es zur Unfallzeit keinerlei militärische Flugbewegungen über dem nördlichen Mittelmeer gegeben habe. Das Dokument bewies nun erstmals das Gegenteil. Die Piloten selbst können nicht die Raketenfeurer gewesen sein – sie befanden sich zu weit nördlich –, doch es wäre die erste Bresche in die offizielle Version gewesen.

Die Piloten sollten nun unmittelbar nach der Flugschau von Ramstein verhört werden. Auf überaus merkwürdige Weise „vergaß“ der Ermittlungsrichter die Sache nach dem Absturz – obwohl da noch ein dritter Pilot war, den er bequem hätte befragen können. Das Dokument verschwand schlicht aus den Akten.

Erst nachdem Bucarelli 1990 durch Ermittlungsrichter Rosario Priore ersetzt worden war, kam die Sache wieder in Schwung – und eine Kopie des Dokuments wieder zum Vorschein. Und da erinnerte sich nun mancher, wie merkwürdig viele Personen im Umfeld des Falles „Ustica“ schon verstorben sind:

Da erhängte sich der Radarlotse Mario Dettori, der schon in der Nacht des Desasters von einem „beinahe ausgebrochenen Krieg“ gesprochen hatte, sieben Jahre nach der Tragödie – er hatte sich einem unerträglichen Druck und ständiger Verfolgung ausgesetzt gefühlt. Da wurde ein Feldwebel Ugo Zammarelli, der sich um die Rückgabe einer fast zeitgleich mit der DC 9 im nahen Sila-Gebirge abgestürzten MiG-23 an das angebliche Herkunftsland Libyen gekümmert hatte, von einem Motorrad getötet – doch er wies keinerlei Verletzungen auf. Da kam Giorgio Teoldi, Kommandant der Flugbase Grosseto, mit seiner Familie bei einem Autounfall auf schnurgerader Strecke ums Leben, kurz nachdem er von Beweisen für den Abschuß der DC 9 gesprochen hatte; ebenfalls bei einem unerklärlichen Unfall starb der Bürgermeister von Grosseto, Giovanni Finetti – er hatte vertrauliche Berichte einiger Sicherheitsoffiziere der Luftwaffe publik gemacht, nach denen die DC 9 versehentlich während eines Feuergefechts abgeschossen worden war. In Rom wurde 1987 der General Licio Giorgieri ermordet – angeblich von den Roten Brigaden, aber das Attentat war so anomal, daß niemand daran glaubte. Giorgieri war zur Zeit der „Ustica“-Tragödie einer der Verantwortlichen für die Aufzeichnung von Radarbeobachtungen – die, wie sich im Verlaufe der Ermittlungen herausstellte, hinsichtlich Ustica allesamt vernichtet oder manipuliert wurden. Sein Vorgesetzter, General Rana, starb an einem Herzinfarkt – er hatte als erster die Anwesenheit eines Jägers nahe der DC 9 gemeldet; ebenfalls an einem Infarkt verschied mit 35 Jahren der stellvertretende Kommandant von Grosseto.

Das Zeugensterben ging auch nach dem Ramstein-Desaster weiter: ein Luftfahrt-Feldwebel von Lamezia Terme, wo besonders unverfroren Radarspuren gefälscht worden waren, wurde mit seiner eigenen Pistole von einem angeblichen Einbrecher umgebracht; ein seinerzeit in Poggio Ballone stationierter ehemaliger Oberst, der für die nächsten Tage Enthüllungen über Ustica angekündigt hatte, kam beim Absturz seines Feuerlöschflugzeugs ums Leben; ein ehemaliger General und Spezialist für Radaraufzeichnungen, der Ustica-Spuren verfolgt hatte, wurde in Brüssel vor seiner Wohnung erstochen.

Nun kann natürlich im Laufe der Jahre auch ein Dutzend Zeugen auf verschiedenste Weise sterben – nur, hier starben die Betroffenen stets wenige Tage nachdem sie Enthüllungen angekündigt oder gemacht hatten oder kurz bevor sie vernommen werden sollten.

Untersuchungsrichter Priore, der bereits 13 Anklagen gegen hohe Offiziere wegen Fälschung, Justizbehinderung und Beweisvernichtung erhoben hat, muß bis zum Dezember 1993 seine Arbeit am Fall Ustica abgeschlossen haben, weil sein Auftrag nicht verlängert wird. Auch dem Fall Ramstein – der nicht zu seinem Auftrag gehört – hat er einige Recherchen gewidmet. Ergebnis immerhin: der dritte, überlebende Pilot aus dem Dreiergespann mit Nutarelli und Naldini hat nach vorherigem Leugnen inzwischen die italienische Abfangaktion zugegeben, und die Frauen der Unglückspiloten, die ihrerseits vorher angeblich von ihren Männern nie etwas erfahren hatten, haben dem Untersuchungsrichter mittlerweile gestanden, daß ihre Männer seit der Unglücksnacht von Ustica vom Abschuß der DC 9 gesprochen hatten. Oberst Nutarelli, der in den Tagen von Ramstein voller Wut wegen einer Zurücksetzung bei der Beförderung war, hatte wohl wirklich die Absicht, beim anstehenden Verhör auszupacken. Eine kleine Manipulation an der Maschine in Ramstein könnte tatsächlich ein „Warnzeichen“ gewesen sein.