Überlebenskampf in Spitzenschuhen

■ Das neue Bremerhavener Ballett denkt nicht daran, sich wegkürzen zu lassen: „We are young and fresh"

„Please, come together,“ ruft Ricardo Fernando. Vor dem Spiegel im Ballsaal versammeln sich fünf Damen und vier Herren. Ricardo, der Ballettmeister und Solotänzer, beobachtet, wie sich die Gruppe zu Paaren und Trios formiert. Erhobene Arme, angewinkelte Beine, bitte stillhalten: ein Standfoto!

Mit dem jungen brasilianischen Ballettmeister, mit seiner Frau Carla Silvia als Trainingsleiterin und vier weiteren neu verpflichteten Ensemble-Mitgliedern ist ein frischer Wind ins Bremerhavener Stadttheater eingezogen, der Ballettsaal zur Herzkammer des Theaters geworden.

Doch wenige Tage, nachdem die neue Truppe die Proben aufgenommen hatte, teilte ihnen Kulturdezernent Wolfgang Weiß mit, daß ihre Sparte möglicherweise dichtgemacht wird. Der Magistrat will damit seiner Verpflichtung nachkommen, in den nächsten vier Jahren 8,5 Prozent der Planstellen in jedem Ressort zu streichen. Im Theater mit 234 MitarbeiterInnen sind das 16 Stellen.

Den Ballettchef und seine Truppe scheint das wenig zu beeindrucken. „Ohne uns geht's nicht,“ sagt Tänzerin Nina Paschen, „wie wollen sie hier Operetten, Opern und Musicals machen? Den professionellen Standart, den wir entwickeln, kann keine Tanzschule ersetzen.“ Im ersten Augenblick sei sie frustriert gewesen, sagt Solotänzerin Carla Silva, aber: „Das Theater braucht uns — ohne uns wäre es hier leer.“

Daß das Ballett in den letzten zehn Jahren einer Rentnerband glich, die lustlos über die Bühne zog, wird hier zugegeben. Doch, so der Italiener Bruno Mora, „we are young and fresh.“ Ulrich Steffens und Diana Berrett wurde übernommen und weinen den letzten Jahren am Stadttheater nicht hinterher, in denen sie nur als Tanzstatisten eingesetzt worden seien. Berrett: „Heute arbeiten wir ganz anders als früher; trotz der schlechten Nachricht gehen alle gern zur Arbeit.“ Sie begreift die drohende Abschaffung des Balletts als Herausforderung: „Wir werden aggressiv. Wir kämpfen. Unsere Antwort wird stark sein.“

Die erste Antwort hat Ricardo aus der Schweiz mitgebracht. In St.Gallen, wo er am Stadttheater als Trainer gearbeitet und nebenher das Schweizer Kammerballett aus der Taufe gehoben hat, ließ er T-Shirts mit dem Logo „Ballett Stadttheater Bremerhaven“ drucken. Sein Ballett soll als eigenständige Truppe in Bremerhaven Furore machen. Und nicht nur dort: Im nächsten Sommer will er auf Europatournee gehen. Angebote aus der Schweiz hat er schon in der Tasche. „Ich kenne meine Power, sagt Ricardo, „Ich bin sicher, nach zwei Spielzeiten haben wir unser Publikum gefunden wie damals in St.Gallen. Wir kämpfen in Spitzenschuhen und Jazzschuhen.“

Den ersten Beweis dafür, daß sie das Geld wert ist, welches die Stadt in die Truppe steckt, will sie am 25. September liefern, wenn zum ersten Mal der Vorhang zu Harvey Fiersteins „Käfig voller Narren“ aufgeht. Das nach dem Erfolgsfilm geschriebene Musical um den alternden Travestiestar Zaza und seine Tanztruppe sei mit einem Laienballett gar nicht zu machen. „Wir bieten dem Stadttheater unsere Hilfe an. Dieses Haus mit seinem Musiktheater muß Profiqualität behalten.“ Eine eigenständige Ballettmatinee folgt schon im Oktober. Ricardo, ein kreativer Workoholic mit Sinn fürs Positive, wird bis dahin arbeiten, arbeiten, arbeiten, täglich vier Stunden Training und vier Stunden Probe. Mit klassischem und modernem Tanz will er Höchstqualität bieten, damit es am 17.Oktober heißen kann: „Here we are. Face to face.“ Hans Happel