Mehr Demokratie gewagt

■ SPD beschloß auf Parteitag mehr Basisbeteiligung und Mitgliederbegehren / Staffelt: Bundes-SPD verzögert Umzug

Der Berliner SPD-Chef Ditmar Staffelt schickte deutliche Worte an die „Trickser und Täuscher“ am Rhein: In der leidigen Frage des Umzugs von Regierung und Parlament mußten sich vor allem die Genossen in der Bundespartei scharfe Kritik gefallen lassen. Dem neuen Parteivorsitzenden Rudolf Scharping warf Staffelt zu Beginn des zweitägigen SPD-Parteitages in der Kongreßhalle am Alexanderplatz „Eiertänze“ und „schwammiges Taktieren“ vor und plädierte vehement für einen Umzugstermin im Jahr 1998. Parteivorstand und Fraktion in Bonn sollten sich endlich klar dazu bekennen. „Ich erwarte, daß jemand, der in die Fußstapfen von Willy Brandt treten will, sich in dieser Frage durchsetzt.“

Auch den größeren Koalitionspartner in Berlin, die CDU, kritisierte Staffelt scharf. Mit Blick auf die bevorstehenden parlamentarischen Abstimmungen über das Schiller Theater und die Akademie der Künste warnte der SPD- Vorsitzende, der jetzt seit zehn Monaten im Amt ist, die Christdemokraten: „Es wäre ein Treppenwitz der Stadtgeschichte, wenn die dumpfe Hinterbank der CDU ausgerechnet über die Fragen der Kunst und Kultur ihren Regierenden Bürgermeister düpiert.“ Im Kern, so Staffelt, gehe es um die Regierungsfähigkeit der CDU.

Mit Staffelts Rede, so schien es, war jedoch der Kampfgeist der Berliner Sozialdemokraten für diesen Parteitag aufgebraucht. Brav ging man zur Tagesordnung über, brav wurden Anträge eingebracht, diskutiert, abgestimmt. Als erster SPD-Landesverband in der Bundesrepublik beschlossen die Berliner mehr Basisbeteiligung bei Sachfragen für ihre Mitglieder. Mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit wurde in der Satzung verankert, daß künftig jedes Parteimitglied bei Sachfragen ein Mitgliederbegehren beantragen kann, wenn ein Quorum von fünf Prozent erfüllt ist. Bei den derzeit 25.000 Mitgliedern der SPD in Berlin bedeutet das, daß 1.250 einem solchen Begehren zustimmen müssen. Dann muß der Landesverband einen Mitgliederentscheid organisieren, der gültig sein soll, wenn eine Mehrheit der abgegebenen Stimmen die Frage befürwortet. Auch bei Personalfragen will die Berliner SPD künftig eine Urwahl zulassen. Dazu will man jedoch zuerst die entsprechenden Beschlüsse der Bundespartei im November abwarten; die Berliner Satzung soll dann im Juni 1994 erneut geändert werden.

Einigkeit wurde auch beim inhaltlichen Schwerpunkt des Parteitags geübt, der Debatte um die Innere Sicherheit. Vom Koalitionspartner forderte man eine grundlegende Neuorientierung: viel wichtiger als mehr Polizei und eine Verschärfung des Strafrechts sei die Vorbeugung durch eine präventive Jugend-, Wirtschafts- und Sozialpolitik, heißt es in einem mit großer Mehrheit verabschiedeten Beschluß. Parteilinke wie der Verfassungsrichter Klaus Eschen warnten jedoch davor, bereits so zu tun, als ob man wüßte, wie ein sozialdemokratisches Sicherheitskonzept aussehen könnte. Der Beschluß könne allenfalls der Anfang einer Debatte sein.

Der Star des Parteitags war ein Mann, der nur im Hintergrund auftrat. Dem früheren Innensenator Erich Pätzold, gegen den als Nachspiel zum Schmückerverfahren wegen des Verdachts der uneidlichen Falschaussage ermittelt wird, schlugen mehrfach hohe Sympathiewellen entgegen. Eine Debatte um die angeschlagene Justizsenatorin Jutta Limbach fand auf Intervention Staffelts jedoch nicht statt und wurde an das Abgeordnetenhaus überwiesen. Dort soll die SPD-Fraktion darauf drängen, daß Limbach im Rechtsausschuß alle Akten im Zusammenhang mit dem Strafverfahren offenlegt.

Blieb die Hinwendung zur „großen Politik“: Der neue Bundesgeschäftsführer der SPD, Günter Verheugen, referierte zu den „Anforderungen an eine sozialdemokratische Außen- und Sicherheitspolitik“. Er erreichte bei den gegenüber Bonner Politikern als besonders spröde geltenden Berlinern immerhin einen Achtungsapplaus und die Verabschiedung einer im Sinne des Parteivorstandes liegenden Resolution: UNO-Blauhelmeinsätze ja, Kampfeinsätze nein. Das heißersehnte Credo zum Umzugsbeschluß blieb er den Berlinern aber schuldig. Kordula Doerfler