Philologischer Krimi

■ Antonia Byatt: "Besessen" - durch einen entwendeten Brief ins andere 19. Jahrhundert

Roland Michell ist 29 Jahre alt, promoviert, weitgehend einkommens-, wenn auch nicht arbeitslos. Gegen ein geringes Salär darf er seinem Professor helfen, dessen Edition des viktorianischen Gelehrten Randolph Henry Ash zu einem Erfolg zu machen, wobei ihn die Hoffnung nie verläßt, für seine Mühen einst mit einer akademischen Stelle belohnt zu werden. Wenn alles seinen gewohnten Gang ginge, könnte dieser etwas langweilige Philologe also in der British Library als Faktotum grau werden. Er stößt aber dort auf zwei völlig unberührte und der Forschung unbekannte Liebesbrief- Entwürfe von Ash, die das Bild vom steifen puritanischen Gelehrten umstürzen müssen. Roland entwendet die Briefe und schlägt damit seine Laufbahn als ewiger Assistent in den Wind.

Die anonyme Adressatin der Briefe wird mit philologischer Kriminaltechnik ermittelt. Sie ist die von feministischen Forscherinnen zur Lesbierin stilisierte Christabel LaMotte; damit steht auch in der LaMotte-Forschung eine Revision an. Ist der Brief nicht nur entworfen, sondern auch abgeschickt worden? Gibt es sogar einen Briefwechsel? Roland beginnt die Jagd auf die unbekannten Briefe, die er begehrt und besitzen möchte. Da jeder Detektiv einen Assistenten braucht, trifft Roland auf die LaMotte-Expertin Maud Bailey, die sogleich die Ermittlungen in die Hand nimmt. Und da moderne Gelehrte nicht im stillen Kämmerlein, sondern in den Kommunikationsnetzen der scientific community operieren, bleiben die Recherchen nicht unbemerkt und rufen Konkurrenten auf den Plan. Bald jagen drei Gruppen auf den Spuren des 19. Jahrhunderts durch England und Frankreich, jede getrieben von spezifischen Erkenntnisinteressen und Begierden.

Der Roman erinnert damit an Edgar Allan Poes Geschichte vom „Entwendeten Brief“, die der von den fiktiven Forschern des öfteren zitierte Jacques Lacan analysiert hat. Den Brief aus Poes Geschichte, den viele suchen und keiner kennt, hat Lacan als „Symbol des Begehrens“ bezeichnet. Seine Bedeutung verdankt er allein der Konstellation der Personen, für die er wichtig ist. Gerade der Mangel an Wissen über den Inhalt schürt die Erwartungen der Jäger. Jeder jagt, was er ersehnt, wodurch am Ende, wie es bei Lacan heißt, „für jeden der Brief sein Unbewußtes“ ist. Genau so verhält es sich in Antonia Byatts Roman, in dem alle Forscher in den gesuchten Briefen ihrem unbewußten Begehren hinterherlaufen: den Neurotiker Cropper treibt der stete Mangel seiner Sammelleidenschaft; Blackadder braucht die Briefe für sein editorisches Lebenswerk; die Feministin Stern möchte verhindern, daß Cropper, des Antifeminismus verdächtig, die Briefe bekommt; Bailey will mit der Korrespondenz ihr Center für Woman-Studies aufwerten, und Roland ist, was die deutsche Übersetzung übersehen läßt, schlicht besessen davon, sie zu besitzen. Am Ende treffen sich die Besessenen am Grab des toten Dichters, das sie erfolgreich plündern. Die entscheidenden Briefe finden sich in seinem Sarg und geben die Antwort darauf, wer sie besitzen und damit die Jagd gewinnen wird. Denn in Tradition der schönen literarischen Sitte des 19. Jahrhunderts, nach der (fast) alle Protagonisten in Romanen untereinander verwandt sind, entpuppt sich Maud Bailey als Nachfahrin von Ashs und LaMottes illegitimer Tochter, die unter falschem Namen groß geworden ist. Ihre Suche war also eine nach ihren eigenen Ursprüngen. In Mauds Augen hat dieses Ende etwas „Vorherbestimmtes“: „Richtig dämonisch. Als hätten sie Besitz von mir ergriffen.“ Die Jagd, die mit der Besessenheit Rolands begann, endet mit der Besessenheit Mauds durch ihre Ahnen. Beinahe. Nachdem der Brief angekommen und die Jagd zu Ende ist, schlafen Roland und Maud, die sich selbstredend während der gemeinsamen Sache ineinander verliebt haben, endlich zum ersten Mal miteinander – was wiederum etwas „Vorherbestimmtes“ hat, denn es erfüllt sich eine Schlüsselloch-Szene, in der Roland zum Voyeur einer wunderschönen, blondhaarigen und weißhäutigen Maud im Bade wird, eine Szene, die beide bei LaMotte gelesen haben. Roland und Maud erliegen also ihrer Lektüre.

Lacan beendet sein Seminar über Poes Geschichte mit dem Hinweis: „Alles, was dazu dienen mag, die Personen als reale zu definieren – Qualitäten, Temperament, Erbe, Adel –, ist umsonst bei der Affäre.“ Jeder sei in „jedem Augenblick“ bis „in seine sexuelle Attitüde hinein“ durch seine Position zum Brief definiert. Byatts Personenkonstellation folgt strikt diesem strukturalistischen Credo, ohne eine bloße Illustration zu bieten. Daß die Psychoanalyse die Literatur nur unvollkommen erfaßt, darauf verweist schon bei aller Koketterie mit postmodernen Denkern der Text selbst. Roland polemisiert gegen die Lacanistin Stern, sie führe alles auf „die menschliche Sexualität zurück“, zerkoche die unterschiedlichsten Autoren und Texte wie „Marmelade“. Sie interpretiere „die ganze Erde als weiblichen Körper“, und „jede Vegetation bedeute Schamhaar“. Maud unterstellt ihm da natürlich sofort Impotenz. Dagegen betont Roland die Vielzahl der Lesemöglichkeiten: „Ein und derselbe Text erlaubt verschiedene Lektüren“: ehrerbietige, analytische, didaktische, vergnügliche, identifizierende und biographische, ängstliche, schockierte, fürchterliche. Und letztlich gibt es eine Lektüre, die den Text genießt, weil „der Text dem Leser als etwas völlig Neues, nie Gesehenes erscheint“. Das gilt vielleicht doch nicht für jeden Text, wohl aber für Antonia Byatts Roman. Niels Weber

Antonia Byatt: „Besessen“, Insel Verlag. Aus dem Englischen von Melanie Walz. 560 Seiten, 48 DM