Der zweite Yen-Schock

Zwingt der hohe Yenkurs die erfolgreichen japanischen Exportkonzerne in die Knie? / Oder geht Japan sogar gestärkt aus der Krise hervor?  ■ Aus Tokio Georg Blume

Lautlos hebt sich der Fahrstuhl im luxuriösen Hauptquartier des einflußreichen japanischen Arbeitgeberverbandes „Keidanren“ von Etage zu Etage. Nur wenige Sekunden öffnet die silberne Aufzugstür, antrittsschnell entweichen die Angestellten in ihre Büros. Dann aber fällt der Besucherblick auf die großen goldenen Zahlen, die auf jeder Etage zwischen den Aufzugsflügeln glänzen: „101.47“ war dort vor wenigen Tagen zu lesen. Zehnmal die gleiche Zahl bis in den zehnten Stock. Genau soviel Yen kostet der Dollar auf seinem historischen Tiefststand am 18. August in Tokio. Die Botschaft vor dem Fahrstuhl könnte kaum deutlicher sein: Mit diesem Yenkurs ist für die japanische Wirtschaft nichts mehr so, wie es war.

Halb verliebt und halb entsetzt starren die Japaner seit Jahren auf die magische Zahl des Dollarwerts in Yen. Schließlich maß sich mit dem steigenden Yenkurs in den achtziger Jahren Japans zunehmende wirtschaftliche Stärke. Könnte in den neunziger Jahren nun das Gegenteil richtig sein? Japan befindet sich seit dem zweiten Jahresquartal in der Rezession. Die wirtschaftliche Krisenstimmung gilt als ausschlaggebend für den ersten Regierungswechsel seit 38 Jahren. Der zweite Yen-Schock, nach der ersten Aufwertung durch den Plaza Accord der G7-Gruppe 1985, erwischt Japan zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt.

„Wir sehen uns mit der potentiell schwersten Krise unserer Unternehmensgeschichte konfrontiert“, verlautete es diese Woche ausgerechnet aus dem bis zuletzt erfolgreichsten Autounternehmen der Welt, Toyota. Die Vorzeigefirma könnte im Geschäftsjahr 1993 sogar erstmals in die Verlustzone fallen – verantwortlich dafür wäre vor allem der starke Yen. Nicht besser geht es den anderen Flaggschiffen der japanischen Automobilindustrie: alle haben es gleichermaßen mit einem rezessiven Heimatmarkt zu tun. Durch den ungünstigen Wechselkurs erzwungene Preiserhöhungen haben gleichzeitig den japanischen Anteil am US-amerikanischen Automobilmarkt von 26 Prozent 1991 auf 22 Prozent im Juli dieses Jahres gedrückt. Zudem können die japanischen Hersteller ihren Marktanteil in Europa aufgrund der Quotenregelung mit der EG nicht mehr erhöhen – ganz im Gegenteil müssen sie die europäischen Autoeinfuhren wegen einer Marktanpassungsregel im Handelsvertrag mit Brüssel entsprechend der sinkenden Nachfrage innerhalb der EG sogar weiter reduzieren.

Seit Jahresbeginn ist der Yen um rund zwanzig Prozent, seit Beginn der neunziger Jahre sogar um rund dreißig Prozent im Vergleich zum Dollar, aber auch zur Deutschen Mark gestiegen. Hinzu kommt für die japanischen Hersteller die doppelte Belastung steigender Arbeitskosten in Japan. Seit 1990 sind deshalb die Gewinne japanischer Unternehmer im Exportgeschäft um 20 Prozent gesunken. Schon zu Jahresbeginn hatten die Zentralbank und das Industrie- und Außenhandelsministerium (MITI) in ihren Berichten gewarnt, daß nur 2,4 Prozent der japanischen Exportunternehmen mit Gewinnen rechnen können, falls der Dollarkurs unter 110 Yen fällt. Die Folge sind bislang drastische Sparprogramme in den Unternehmen: Toyota ist es im vergangenen Jahr gelungen, 500 Millionen Dollar weitgehend über den Teileeinkauf von Zulieferern abzuspecken. Die Überlebensangst der Betriebe ist deshalb im zweiten und dritten Glied der japanischen Wirtschaft am größten, dort, wo kleine Firmen den großen einfache Zuarbeit leisten, die bei einem starken Yen billiger in China und Südostasien zu erhalten ist. Schon ist ein zweite Welle japanischer Investitionen in den asiatischen Billiglohnländern angelaufen. Elektro-HiFi-Hersteller Pioneer will den Anteil der Auslandsproduktion von 30 auf 50 Prozent erhöhen. Zwangsläufig wird die bisher geringe Arbeitlosenquote von zuletzt 2,5 Prozent im Juli ansteigen.

Bis zu diesem Punkt sind sich die meisten japanischen und ausländischen Experten einig. Was aber darüber hinaus mit der Japan AG geschieht, ob tiefe Strukturreformen mit Massenentlassungen die Art des japanischen Wirtschaftens schlechthin verändern werden oder nur zweitweises Kürzertreten von Management und Belegschaft bis zum nächsten Wachstumsboom in Asien ausreicht, um die Folgen der Yenaufwertung abzuschütteln, ist derzeit kaum zu entscheiden. Glauben steht hier gegen Glauben. Seit langem halten die Amerikaner in Tokio das japanische System lebenslanger Beschäftigung für ökonomisch unhaltbar. Doch Nippons Konzerne trotzen bislang den Voraussagen, indem sie geschätzte 1,5 Millionen überflüssige Arbeitskräfte trotz der Krise weiterbeschäftigen. Statt dessen zielen ihre Kürzungsprogramme bisher ausschließlich auf Rationalisierung und Kostensenkung im Produktionsablauf. Das Ergebnis könnte langfristig „eine sehr viel wettbewerbsfähigere Wirtschaft als jene sein, die schon jetzt Rekordhandelsüberschüsse produziert“, glaubt Kenneth Courtis, Chefökonom der Deutschen Bank in Tokio.

Das allerdings wären schlechte Nachrichten für die westlichen Regierungen, die die Schwäche ihrer Währungen gegenüber dem Yen erst herbeigeredet haben: Sie wollen Japan damit eigentlich zwingen, den gigantischen Handelsüberschuß von vorausgesagten 150 Milliarden Dollar 1993 im nächsten Jahr zügig abzubauen. Tatsächlich ist der japanische Handelsüberschuß im Yenwert während des Monats Juli überraschend gefallen. Ist die Trendwende also bereits erreicht?

Wahrscheinlich nicht: Bei einer solchen Währungspolitik schlagen einfache politische Rechnungen nämlich in aller Regel fehl. Der hohe Yen könnte Japan, das alle Öleinfuhren in Dollar begleicht, schon bald Ersparnisse auf seiner Energierechnung über 15 Milliarden Dollar einbringen. Um die gleiche Summe würde auch der japanische Handelsüberschuß wieder ansteigen. Zudem könnte der Druck auf die Exporte die Bereitschaft der neuen Regierung zur Deregulierung des Binnenmarkts stärken. „Dieser Binnenmarkt ist dreimal so groß wie in Deutschland“, bemerkt Folker Streib, Commerzbank-Chef in Tokio. „Der Yen-Schock wird deshalb japanische Lösungen hervorbringen, die für das Land gut sind. Bei Produktivitätsvorteilen von 40 Prozent in der Industrie hat das mit der Wettbewerbsfähigkeit des Landes alles wenig zu tun.“ Die Japaner selbst packt trotzdem die Angst, daß sich ihre Produkte in Übersee nicht mehr verkaufen lassen. Vielleicht liegt gerade darin der wirtschaftliche Vorteil des starken Yen.