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Ed, Merce und eine Münze

Merce Cunningham, der inzwischen 74jährige Dauerrevolutionär des Tanzes und langjährige künstlerische Weggefährte von John Cage, zeigte in Berlin „Doubletoss“ als europäische Erstaufführung und andere Arbeiten  ■ Von Michaela Schlagenwerth

Auf die Frage, warum er sich in seinem Alter nicht zur Ruhe setze und das Leben genieße, er habe doch alles erreicht, was für einen Tänzer und Choreographen überhaupt zu erreichen sei, kann Merce Cunningham nur verwundert die Augenbrauen hochziehen: „Das muß ein Mißverständnis sein. Was ich genieße, ist zu tanzen. Und wenn ich mich selbst nicht mehr bewegen kann, kann ich doch immer noch Bewegungen für andere finden.“ 74 Jahre ist er inzwischen alt, ein wenig steif in den Knochen, durch eine Gelenkerkrankung zieht er das rechte Bein etwas nach, das Gesicht ist voller Falten und das gelichtete Haar in feine weiße Löckchen geringelt. Ungeheuer gerade sitzt er, mit wachen Augen und einer Präsenz, die die Zuhörer in seinen Bann schlägt. In den letzten fünfzig Jahren hat er die Tanzwelt erschüttert wie kaum ein anderer in diesem Jahrhundert. Tanz in Amerika zerfällt in die Zeit vor und nach Cunninghams Erscheinen auf der Bühne.

Im Alter von acht Jahren hatte er mit Ballett angefangen, mußte aber wegen Schließung der Schule bald schon wieder aufhören. Mit dreizehn sah er in seinem Heimatort Mrs. Barrett, die in einem gelben Kleid und weißen Männerhosen auf Händen über die kleinstädtische Bühne von Centralia, Washington spazierte und dabei unaufhörlich mit dem Publikum redete. Zu ihr ging er und lernte bis zum Abschluß der High-School „Tap“, „Soft Shoe Dance“, Walzer und andere Tänze. Und dann, auf Miss Cornish's Schule für Tanz und Schauspiel in Seattle, begegnete ihm der im August vergangenen Jahres verstorbene Musiker John Cage, Merce Cunninghams häufigster und wichtigster Arbeitspartner und Lebensgefährte für ein halbes Jahrhundert. Für Cunninghams erste Soloperformance im April 1944 in New York hat John Cage die Musik komponiert. Da war Merce Cunningham noch Mitglied der Martha Graham Dance Company (von 1939 bis 1945) und absolvierte neben der Graham- Technik gleichzeitig eine Ausbildung in klassischem Ballett. John Cage, der schon recht früh wußte, was er wollte, war der Verführer, der ihn vom rechten Weg des Modern Dance abbrachte. Die Hinwendung zur östlichen Zen-Philosophie und die daraus resultierende Arbeit mit „Chance-Operations“ – Zufallsoperationen, in denen eine in die Luft geworfene Münze über die Abfolge von einzelnen Bewegungsphrasen entscheidet – sind die Basis für ein grundsätzlich neues Tanzverständnis. Cage arbeitete bei seinen Musikkompositionen mit dem gleichen Verfahren; Cunninghams choreographisches Werk ist von Anfang an eng mit dessen Musikauffassung verknüpft: „Cages Musik hat meine Choreographie in Ruhe gelassen, alleine gelassen.“ Die Essenz des Tanzes ist der Tanz, die Bewegung selbst. Er dient weder der Illustration von Musik noch dem Ausdruck von Emotionen. Das warf alle bis dahin gekannten Vorstellungen von Tanz über den Haufen: Cunninghams erste und größte Revolution.

Alles Narrative verschwindet, Spannungsbögen und ein aus dem Anfang entwickeltes logisches Ende gibt es nicht mehr. Die von einer frontal ausgerichteten Proszeniumbühne abgeleitete Raumvorstellung weicht Albert Einsteins Satz „Es gibt keine Fixpunkte im Raum“. Jeder Punkt wird gleichwertig und austauschbar, getanzt wird in alle Richtungen – aufgelöst wird damit auch die Herausstellung von Solisten, die sich vor dem Hintergrund einer Gruppe von Tänzern profilieren. Der Tanz macht sich von der Musik unabhängig: Mit den Komponisten wird nicht mehr als die Länge eines Stücks verabredet, Tanz und Musik treffen nicht nur für das Publikum, sondern auch für die Tänzer bei der Uraufführung das erste Mal aufeinander.

1953 gründet Cunningham seine eigene Tanzcompany mit John Cage als musikalischem Leiter. Eine Zeit voller Geldmangel und Unverständnis seitens des Publikums. „Manchmal bestanden die Leute darauf, uns nach den Aufführungen noch zu einer Party mitzunehmen; dann gingen wir eben mit, und sie hielten endlose Vorträge darüber, wie schlecht Tanz und Musik gewesen seien. Danach durften wir dann weiterfahren.“ Im Laufe der Zeit kam der Ruhm, schließlich der Weltruhm. Doch als Klassiker der Moderne kann Merce Cunningham nicht gelten: Er ist ein Dauerrevolutionär.

In den frühen Siebzigern, als die meisten Tänzer die damals aufkommenden Videoaufzeichnungen noch mißtrauisch beäugen, entdeckt Cunningham die neuen Möglichkeiten, die sich bei der Arbeit mit der Kamera eröffnen. Gemeinsam mit Charles Atlas produziert er seine ersten Tanzfilme, in denen die Kamera zur tanzenden Kamera wird, neue Bewegungsformen für den Tanzfilm kreiert werden. Sprünge beispielsweise werden, um für den schmalen Winkel der Kamera besser erfaßbar zu sein, kurz und senkrecht statt raumgreifend gesprungen, eine Form, durch die die rhythmische Struktur komplexer geworden ist und die Cunningham seitdem häufig nutzt; in „Change of Address“ etwa, einem der vier Stücke, die Merce Cunningham mit seiner Dance Company bei einem dreitägigen Gastspiel in der Berliner Staatsoper Unter den Linden zeigte. Aus dem Plié springen die Tänzer, und Bewegungen, die in die Höhe wollen, werden bodenbezogen und schwer – die Leichtigkeit des Balletts wird von der Schwerkraft durchdrungen. Zu „Doubletoss“, einer Arbeit aus diesem Jahr, die zum ersten Mal in Europa zu sehen ist, hat Takehisa Kosugi eine wunderschöne meditative Musik voller Pfeifen und Glockenklänge geschrieben. In mildes Licht ist „Double Toss“ getaucht, die Tänzer bewegen sich zum Teil hinter einem Gazevorhang, und das Stück erhält so etwas Traumhaftes. Wie immer bei Cunningham sind die Tänzer völlig auf ihre physischen Aufgaben konzentriert – dem Zuschauer wird viel Raum für eigene Vorstellungen gegeben. Ähnlich wie im japanischen No- und Kabuki-Theater wird eine „Leere“ geschaffen, aus der man ablesen kann, was immer man will. Doch anders als im japanischen Theater beruht Cunninghams Arbeit nicht auf Minimalismus und Reduktion, sondern auf einer ungeheuren Bewegungsvielfalt und Komplexität. Wunderschöne Bewegungsabläufe, die anderen als Grundlage für ein ganzes Stück dienen würden, tauchen kurz auf, überlagern einander und verschwinden wieder. In „Enter“, einem einstündigen Stück mit einer Musik von David Tudor, erscheint Cunningham dreimal selbst auf der Bühne. Völlig still steht er da, derweil die Tänzer inmitten all seiner Bewegungskreationen wechseln; und wenn er mit schnellen, drehenden Handbewegungen die Bühne durchquert, scheint etwas auf von der ungeheuren Faszination an Bewegung, die sein ganzes Leben erfüllt hat. „Enter“, der Titel des Stücks, verweist auf den Tanzcomputer, mit dem Merce Cunningham heute arbeitet – mit „Ed“ (von Sequence Editor oder Seq. Ed.), einer spiralförmigen, dreidimensionalen Figur, hat er fast ein Drittel der Bewegungsphasen, die in „Enter“ verwendet wurden, ausgearbeitet. Die Arbeit mit dem Computer, so Cunningham, habe sein Verhältnis zur Bewegung nicht grundlegend geändert, und letztlich falle alles auf den Tänzer zurück. Aber durch die Verwendung des Computers kommt er an Bewegungen, von denen er wußte, daß sie da sind, die er vorher jedoch nicht finden konnte. Mit Ed, der nicht alternden und in alle Richtungen dehnbaren Figur, kann er Dinge versuchen, die dem menschlichen Körper nicht möglich sind. Befremdlich findet er das nicht, letztlich ist es die Individualität eines jeden einzelnen Tänzers, die der Bewegung ihren Ausdruck verleiht. Der Computer indes bietet die Chance zu neuen Experimenten und besseren Vorbereitungen; er kann alle bislang versuchten, immer nur symbolisch arbeitenden Notationen ersetzen. Petipa, ein Choreograph aus dem letzten Jahrhundert, schnitt sich Figuren aus Papier und tüftelte mit ihnen an seinen Choreographien. „Könnte ich Petipa von meinem Tanzcomputer erzählen“, so Cunningham, „er würde das sofort verstehen.“ Neben dem Computer liegen die Münzen.

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